Giglio – Die Holzterrassen an der Uferpromenade sind geschlossen, die Insel Giglio ist im Winter nicht besonders gastlich. Am Strand liegt Treibholz, wenige Boote haben im Hafen angelegt. Nur, wenn die Fähre vom toskanischen Festland dreimal am Tag einläuft, kommt ein wenig Trubel auf. Fensterläden sind geschlossen. Nichts los auf Giglio, so war das auch vor zehn Jahren, an jenem Freitag, den 13. Januar 2012. Damals rammte das Kreuzfahrtschiff Costa Concordia einen Felsen vor der Insel, lief leck und kam vor dem Hafenbecken in Schräglage zum Liegen. 32 Menschen kamen ums Leben. Es war schon tiefe Nacht, als Rettungsboote die Schiffbrüchigen an Land ausspuckten. Etwa 400 Schiffbrüchige suchten in der Kirche der Hafengemeinde Zuflucht. Don Lorenzo Pasquotti, der Pfarrer, gab ihnen die Pullover aus seinem Schrank, er ließ sie ins Pfarrhaus, wo sie E-Mails an ihre Familien schreiben durften. Und er sagte ihnen: „Wir sind hier auf der Insel Giglio, eine Stunde vom Festland entfernt, morgen werdet ihr nach Hause kommen, alles wird gut.“
Alles wird gut? Auf Giglio sieht es heute danach aus. Die Normalität, nach der sich auch heute viele sehnen, ist zurück. An der Stelle, wo die Costa Concordia zum Liegen kam, schaukeln an diesem Wintermorgen zwei Möwen in den Wellen. Als sei nie etwas gewesen. 2014 wurde das Wrack aufgerichtet und nach Genua abtransportiert. Kapitän Schettino bekam 16 Jahre Haft wegen fahrlässiger Tötung, die er seit 2017 im römischen Gefängnis Rebibbia absitzt. Schettino, so heißt es, soll inzwischen meditieren und sich von seinen Verwandten bei den Haftbesuchen Meerwasser mitbringen lassen. Wegen guter Führung könne er vielleicht eine vorzeitige Entlassung erwarten, wird gemunkelt.
Am zehnten Jahrestag werden Bürgermeister und Honoratioren, wie jedes Jahr, einen Blumenkranz am Gedenkstein für die Opfer an der Hafenmole niederlegen. Morgens wird es eine Gedenkmesse geben, abends einen Fackelzug. Um 21.45 Uhr, dem Zeitpunkt des Unfalls, werden die Schiffssirenen und die Kirchenglocken läuten. „Es soll ganz einfach und würdig werden wie in den vergangenen Jahren“, sagt Bürgermeister Sergio Ortelli.
Die Costa Concordia war am Abend des 13. Januar von Civitavecchia nahe Rom aus in See gestochen. Aus Prestigegründen – oder Angeberei – wollte Schettino sie so nah wie möglich an Giglio bringen, um den Hafen zu „grüßen“ und den Gästen ein hübsches Fotomotiv zu bieten. Was sonst oft klappte, ging schief: Das fast 300 Meter lange Schiff schrammte unter Wasser einen Felsvorsprung, der schlitzte den Rumpf rund 70 Meter auf. Wasser strömte ein, das Schiff war schnell manövrierunfähig. Nur weil der Wind die Concordia gegen die Insel trieb, kam das Schiff dort auf einem Unterwassersockel mit starker Schräglage zum Liegen. Hätte der Wind anders geweht, wäre die Concordia aufs offene Meer getrieben und wohl komplett gesunken – mit noch viel schlimmeren Opferzahlen.
Die Passagiere und die Küstenwache wurden eine Dreiviertelstunde lang im Unklaren gelassen. Als Crewmitglieder schon mit Schwimmwesten durch die Gänge liefen, sollten die Reisenden in den Kabinen bleiben und Ruhe bewahren. Erst gegen 22.30 Uhr rief man die Passagiere für die Evakuierung an Deck und meldete den Behörden den Notstand.
Das Schiff neigte sich immer mehr, die Lage wurde chaotischer. Manche Passagiere konnten in die Rettungsboote steigen und in den Hafen von Giglio fahren. Andere sprangen ins Wasser und schwammen die etwa 100 Meter an Land.
In jenem dramatischen Moment, als ein riesiges, mit 4200 Menschen besetztes Schiff vor der Insel havarierte, wuchs Giglio noch einmal mehr zusammen. So schlimm und traumatisch die Erfahrung für die Schiffbrüchigen, für die Todesopfer und ihre Familien war, so existenziell war jene Nacht für die Inselbevölkerung. „Wer diese Tragödie erlebt hat, wird sie niemals vergessen können“, sagt Bürgermeister Ortelli, der damals auch schon im Amt war. „Es war eine Nacht des großen Schmerzes, eine echte Not. Aber in jenen Stunden machten sich die Gigliesi wirklich verdient“, sagt Pfarrer Don Pasquotti. Die Schiffbrüchigen wussten damals nicht, wohin. Sie liefen zur Kirche, die Bevölkerung nahm die Schiffbrüchigen in ihren Wohnungen auf. Hotelbetreiber stellten ihre Zimmer zur Verfügung, der Besitzer des Lebensmittelladens verteilte Nahrungsmittel. Die Kirche wurde immer voller, hunderte Menschen lagerten hier für eine Nacht.
Für Don Pasquotti war jene Nacht eine „existenzielle Erfahrung“. „Ich bin dankbar, dass ich damals dabei war“, sagt er. Er konnte die Not der Menschen mit Händen greifen, sein Pfarrer-Sein hatte auf einmal tiefen Sinn. „Heute verstehe ich, wie sich Flüchtlinge und Schiffbrüchige fühlen müssen“. Er war beeindruckt von der spontanen Hilfe der Bevölkerung. Im Unglück waren auf einmal alle gleich, alle waren in jenem Moment Menschen und mehr nicht. Geld, Herkunft, Macht spielten keine Rolle. Es gab in jenen Stunden nur ein großes Wir auf dieser kleinen Insel. JULIUS MÜLLER-MEININGEN UND MANUEL SCHWARZ