Kleine Wunder inmitten des großen Leids

von Redaktion

Neugeborenes überlebt unter den Trümmern des Bebens – Bub (8) nach 52 Stunden gerettet

Damaskus/Istanbul – Tragischer hätte der Start ins Leben für die kleine Aja nicht verlaufen können. Und doch ist die Geburt des Mädchens mitten in den Trümmern eines Hauses in einem syrischen Dorf nahe der türkischen Grenze ein kleines Zeichen der Hoffnung inmitten des unbeschreiblichen Leids, das das schwere Erdbeben in Syrien und der Türkei verursacht hat.

Die 3175 Gramm schwere Aja wird als „Wunderbaby“ bezeichnet. Ein Nachbar brachte das unterkühlte Baby zum Krankenhaus, ihre Gliedmaßen seien blau angelaufen und ihr Körper völlig mit Staub bedeckt gewesen. „Nur eine Stunde länger und es wäre gestorben“, sagte der behandelnde Arzt Hani Maruf im Krankenhaus in Afrin. Die Klinik-Mitarbeiter gaben dem Mädchen seinen Namen. Dem Arzt zufolge kam die gesamte Familie des Mädchens bei der Katastrophe ums Leben – beide Eltern sowie vier Geschwister und eine Tante. Vermutet wird, dass die Mutter kurz nach der Geburt starb. Die Familie sei den Angaben zufolge nahe eines Eingangs zu einem Gebäude gefunden worden.

Die Familie sei zuvor aus der Provinz Dair al-Saur im Osten geflüchtet. Ein Retter habe die Nabelschnur mit einem Messer durchtrennt, ehe er sie aus den Trümmern zog. „Ihr Zustand ist stabil, aber sie hat einige Rippen gebrochen“, sagte Mediziner Maruf.

Es gibt sie, die Geschichten von Rettungen nach etlichen Stunden unter Trümmern. Eine davon ist die von Serap Ela. Die mit einem Schlafanzug bekleidete Fünfjährige wird von Helfern in der türkischen Provinz Hatay aus den Überresten eines Hauses gezogen, wie Videos von vor Ort zeigen. Ebenfalls in Hatay wurde in der Nacht zum Mittwoch auch der 45-jährige Ilhan Gunes nach 42 Stunden lebend aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses geborgen. In Hatay gelang auch die Rettung des achtjährigen Yigit Cakmak. Der Bub war rund 52 Stunden verschüttet, bevor ihn Helfer nahezu unversehrt aus den Trümmern bergen konnten. Auch der Syrer Mahmut Havami überlebte 52 Stunden unter Staub und Schutt. Gestern Nachmittag entdeckten italienische Feuerwehrleute in der türkischen Stadt Antakya einen Buben lebend in einem zerstörten Gebäude. Diese Geschichten sind es, die den Rettern vor Ort die Kraft für ihre Arbeit geben. „Wir hoffen natürlich immer auf Wunder“, sagt Henri Paletta, Vizepräsident des Bundesverbands Rettungshunde. Zu den Überlebenschancen generell erklärt Paletta: „Man sagt, dass nur wenige Tage eigentlich bleiben.“ Die kritische Überlebensgrenze für Verschüttete liegt normalerweise bei 72 Stunden. So lange könne man die Hoffnung haben, Menschen lebend zu finden. Allerdings seien in der Vergangenheit auch Menschen nach vier oder fünf Tagen gerettet worden. Die eisigen Temperaturen im Erdbebengebiet an der syrisch-türkischen Grenze lassen die Hoffnung auf Überlebende sinken. „Wir haben einen schwierigen Faktor, und zwar ist das die Kälte. Aktuell sind es da minus vier bis minus fünf Grad“, so Paletta. Für die Rettungskräfte ist es ein Rennen gegen die Zeit.

Die steigenden Opferzahlen machen es überdeutlich: Die türkisch-syrische Grenzregion ist von einem der schlimmsten Erdbeben der vergangenen Jahrzehnte heimgesucht worden. Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe wurden schon 11 700 Tote gemeldet, mehr als 45 000 Menschen wurden laut offiziellen Angaben verletzt. Und unzählige Menschen in der Türkei und in Syrien bangen noch immer um das Leben ihrer verschütteten Angehörigen.

Vor Ort erschwert auch die politische Lage die Hilfe – so etwa am einzigen offenen Grenzübergang Bab al-Hawa zwischen der Türkei und Syrien. Wegen Straßenschäden verzögere sich dort die Lieferung humanitärer Hilfe, berichteten UN-Quellen. In der Türkei rückt aus dem Ausland immer mehr Unterstützung an. So trafen gestern etwa 50 Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks (THW) in Gaziantep im Südosten des Landes ein. Ihre Aufgabe sei es, verschüttete Menschen zu orten, zu retten und erstzuversorgen, hieß es.

Das UN-Nothilfebüro OCHA kündigte einen Notfallfonds in Höhe von 23 Millionen Euro für die Erdbebenopfer in der Region an. „Die humanitäre Gemeinschaft wird sie bei jedem Schritt auf dem Weg aus dieser Krise unterstützen“, versprach UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths. SABINE SCHWINDE

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