Nach dem Beben wächst die Verzweiflung

von Redaktion

UN gehen von insgesamt 50 000 Todesopfern aus – Tumulte und Festnahmen in der Türkei

Aleppo/Ankara – Fast eine Woche nach der Erdbebenkatastrophe im syrisch-türkischen Grenzgebiet schwindet die Hoffnung, Überlebenden zu finden. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen könnte die Zahl der Todesopfer noch auf 50 000 oder mehr steigen. Momentan liegt die Zahl der Toten offiziell bei über 33 000 – doch in den Trümmern werden immer wieder neue Leichen gefunden.

Durch die vielen ungeborgenen Leichen könnte das Wasser verunreinigt werden. „In den Regionen, wo Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, drohen irgendwann Seuchen“, sagte Thomas Geiner, Teil des Teams der Katastrophenhelfer vom Verein Navis. Ziel sei es, Hilfe zu leisten überall dort, wo sie benötigt werden. Dies sei jedoch bei der Größe der Region, die flächenmäßig größer als Deutschland ist, so gut wie unmöglich.

Wegen des Ausmaßes der Zerstörungen und der schwierigen Zugänglichkeit ist es besonders in Syrien eine enorme Herausforderung, die Helfer und Hilfsgüter in die betroffenen Gebiete zu bringen. Viele Menschen können nicht in ihre Häuser zurück, „weil sie stark einsturzgefährdet sind. Es gibt nur eine rudimentäre technische Ausstattung und Gerätschaft, um die Häuser zu stabilisieren und den Schutt wegzuräumen“, sagte Robert Chelhod, der Projektkoordinator des Hilfswerkes missio Aachen in Syrien. Nach UN-Schätzungen könnten alleine in Syrien bis zu 5,3 Millionen Menschen durch das Beben obdachlos geworden sein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass allein in Aleppo mehr als 200 000 Menschen ihr Dach über dem Kopf verloren haben. Auch mehrere Krankenhäuser und medizinische Ausrüstung seien beschädigt.

Aleppo liegt im Nordwesten Syriens und wird von der Regierung in Damaskus kontrolliert. Die in den Rebellenregionen aktive Rettungsorganisation Weißhelme hatte sich bitter über mangelnde UN-Hilfe nach dem Erbeben beklagt. „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen“, erklärte auch UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Sonntag auf Twitter. Die Betroffenen fühlten sich „zuRecht“ alleingelassen.

Nach Jahren des Bürgerkriegs in Syrien seien viele Menschen „einfach kraftlos“, berichtet auch Chelhod. Inzwischen wachse auch bei den Helfen die Verzweiflung. „Wir hatten die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, aber die Verzweiflung greift nach dieser Katastrophe immer mehr um sich.“

Trotz allem gab es nach mehreren Tagen noch immer Wunderrettungen: Nach 128 Stunden konnte ein zwei Monate alter Säugling in der osttürkischen Provinz Hatay gerettet werden. Ebenfalls in Hatay überlebte die Zwölfjährige Cutie unter den Trümmern. Nach 140 Stunden ist ein sieben Monate altes Baby aus den Trümmern in der Südosttürkei gerettet worden. Helfer aus El Salvador bargen gestern einen fünfjährigen Jungen und eine Frau nach sogar 150 Stunden.

Gleichzeitig wachsen aber Verzweiflung und Wut. Am Samstag berichtete das Technische Hilfswerk (THW), dass sich die Sicherheitslage in der Region Hatay geändert haben soll. Es gebe „zunehmend Berichte über Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppierungen, auch Schüsse sollen gefallen sein“. Deswegen haben die deutschen Helfer ihre Arbeit unterbrochen. „Grund dafür scheinen unter anderem die Verknappung von Lebensmitteln und die schwierige Wasserversorgung im Erdbebengebiet“, teilten THW und die Hilfsorganisation I.S.A.R Germany mit. I.S.A.R-Sprecher Steven Bayer erklärte: „Es ist festzustellen, dass die Trauer langsam der Wut weicht.“

Nachdem in der Türkei etliche Gebäude einstürzten, wurden am Wochenende zahlreiche Haftbefehle erlassen. Die Beschuldigten sollen für Baumängel verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigt hätten. Ihm Rahmen dieser Ermittlungen seien bisher 62 Haftbefehle erlassen worden. Laut der türkischen Nachrichtenagentur DHA sollen bereits zwölf Menschen festgenommen worden sein – darunter mehrere Bauunternehmer aus den Provinzen Gaziantep und Sanliurfa.

Weitere Unterstützung kündigte auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) an. Türkische und syrische Familien in Deutschland sollen ihre „engen Verwandten aus der Katastrophenregion unbürokratisch zu sich holen können, damit sie bei uns Obdach finden und medizinisch behandelt werden können“, sagte Faeser der „Bild am Sonntag“. Dafür sollten rasch reguläre Visa mit einer Gültigkeit von drei Monaten erteilt werden.

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