Rom – Nach dem Schiffsunglück vor Kalabrien mit bislang 62 Toten ist in Italien eine Diskussion um die Migrationspolitik der Regierung in Rom entbrannt. Nichtregierungs- und Menschenrechts-Organisationen kritisierten das Vorgehen der Exekutive von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gegen illegale Einwanderung scharf. Die Organisation ResQ sprach von einem „angekündigten Massaker“. Vom italienischen Ableger der katalanischen Hilfsorganisation Open Arms hieß es, das Unglück an der kalabrischen Küste sei „kein Drama, sondern Folge präziser Entscheidungen“. „Wenn es genügend Hilfsschiffe gäbe, müsste niemand im Meer sterben“, sagte Sprecherin Veronica Alfonsi.
Vor der Küste Kalabriens in der Nähe der Stadt Crotone war am Sonntagmorgen ein mit Migranten beladener Fischkutter auf Grund gelaufen und zerbrochen. Unter den bislang 62 Todesopfern sollen nach Angaben der Bergungskräfte auch 33 Frauen und 13 Kinder sein. Rund 80 Personen überlebten das Unglück, etwa 30 Menschen werden noch vermisst. Das Holzboot war am Donnerstag von der türkischen Küste bei Izmir mit Flüchtlingen aus Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan und Syrien in See gestochen und nach einer dreitägigen Überfahrt kurz vor der Küste Italiens in einen Sturm geraten.
Ein Überwachungsflugzeug der EU-Grenzschutzagentur Frontex hatte das Schiff am Samstagabend rund 40 Meilen vor der Küste gesichtet. In der Folge entsandte die italienische Küstenwache nachts zwei Schnellboote aus, die das Flüchtlingsschiff orten und ihm zu Hilfe eilen sollten. Auch angesichts der bis zu vier Meter hohen Wellen war die Hilfsoperation laut Innenministerium nicht erfolgreich, die Schnellboote hätten den Kutter nicht sichten können. In den Morgenstunden kam es dann zur Tragödie. Nur rund 150 Meter vor der Küste soll das hölzerne Flüchtlingsboot auf Grund gelaufen, zerbrochen und gesunken sein. Einige Überlebende berichteten, ihre gesamte Familie bei dem Unglück verloren zu haben. Ein zwölfjähriger Junge aus Afghanistan gab an, mit vier Geschwistern, beiden Eltern sowie weiteren Familienmitgliedern auf die Überfahrt gegangen zu sein. Alle Angehörigen ertranken.
Pro Person sollen die Flüchtlinge 2500 Euro an die Schlepperorganisation bezahlt haben. Die Staatsanwaltschaft vernahm am Montag drei Männer türkischer und pakistanischer Nationalität, die verdächtigt werden, zur Schlepperorganisation zu gehören. „Es ist kriminell, ein 20 Meter langes Boot mit 200 Menschen an Bord bei schlechtem Wetter ins Meer zu setzen“, sagte Italiens Premierministerin Giorgia Meloni. Innenminister Matteo Piantedosi, der am Sonntag an den Unglücksort reiste, kündigte an, die Regierung werde weiterhin die „Abfahrten verhindern, die illegale Einwanderung und skrupellose Schlepper bekämpfen“. Die Bemühungen der Regierung beziehen sich bislang auf Schiffe, die aus Libyen oder Tunesien Italien zu erreichen versuchen. Italien setzt dabei auch auf „Rückführungen“ durch die libysche Küstenwache. Der am Sonntag gesunkene Kutter kam aus der Türkei über das Ägäische Meer. Immer mehr Migranten versuchen offenbar Europa aus der Türkei zu erreichen, allerdings nicht über den blockierten Landweg, sondern an Griechenland vorbei bis nach Italien. Im Jahr 2022 waren es nach Angaben von Frontex 29 000 Menschen, von denen alleine 18 000 Italien erreichten. Doch auf dieser Route operieren so gut wie keine Hilfsorganisationen. Sie konzentrieren sich bislang auf die Abfahrten vor Libyen. Insgesamt kamen 2023 rund 105 000 Migranten über das Mittelmeer nach Italien (2021: 67 000). JULIUS MÜLLER-MEININGEN