Essen – Nach den Massenschlägereien im Ruhrgebiet zwischen Syrern und Libanesen warnen Wissenschaftler davor, Clan-Strukturen als allzu einfache Erklärungsmuster dafür zu nehmen. „Dieser Begriff stigmatisiert und erklärt nicht den Konflikt. Das ist ein Konstrukt, das es im Gesetzestext so nicht gibt“, sagte der Soziologe Salah El-Kahil von der Universität Duisburg-Essen. Die weitaus meisten Mitglieder der Familien seien nicht Mitglied krimineller Strukturen.
In Castrop-Rauxel waren nach einem privaten syrisch-libanesischen Familienstreit, der durch Aufrufe und offenbar auch durch Falschinformationen in sozialen Medien ausuferte, vor mehr als einer Woche zwei größere Gruppen beider Nationen unter anderem mit Dachlatten, Baseballschlägern und Messern aufeinander losgegangen. Einen Tag später gab es in Essen einen Marsch zahlreicher Libanesen durch die Innenstadt – und eine weitere Schlägerei mit Syrern. Bei dem Polizeieinsatz wurden laut Polizei vier Beamte durch Pfefferspray verletzt. „Tumulte und Auseinandersetzungen wie die vom vergangenen Wochenende dürfen an keinem Ort in Essen stattfinden“, erklärte danach der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU). Es seien die Personalien von mehr als 100 Menschen festgestellt worden. Die Polizei werte darüber hinaus zahlreiche Videos aus.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte Bezüge zur Clankriminalität gesehen. „Die Kriminalität, die aus Familienstrukturen heraus begangen wird, findet nicht immer nur als organisierte Kriminalität im Hinterzimmer statt“, hatte Reul bei einer Sondersitzung im NRW-Landtag gesagt. Laut Reul gehören auch spontane Gewaltausbrüche auf der Straße zum Phänomen der Clankriminalität.
Der Berliner Islamwissenschaftler Ahmad A. Omeirate sagte, seit der syrischen Militärintervention im libanesischen Bürgerkrieg und der jahrzehntelangen Besetzung des Landes gebe es tatsächlich erhebliches historisches Spannungspotenzial zwischen den beiden Völkern. Dazu komme als Sondersituation in Essen die sehr stark angewachsene Zahl von syrischen Flüchtlingen – meist mit anerkanntem Asylstatus – durch die sich die schon länger anwesenden Libanesen in der Stadt bedrängt fühlten.
„Das ist ein Pulverfass, das kann jederzeit wieder hochgehen.“ Gewaltbereit seien aber immer nur wenige Mitglieder der beiden Gemeinschaften. Die deutliche Mehrheit habe sich von den Vorgängen distanziert, betonte Omeirate.
Flüchtlingen und Zuwanderern erschwere ein äußerst kompliziertes und intransparentes Aufenthaltsrecht den Start in Deutschland, sagte der Duisburger Migrationsforscher Thorsten Schlee. Besonders schwer hätten es abgelehnte und in Deutschland teils über Generationen nur geduldete Ausländer, zu denen vielfach Libanesen zählten. Allein die Duldungsgründe umfassten 20 verschiedene rechtliche Varianten.
„Die Folge ist ein starker Drall zu prekärer Beschäftigung weit unterhalb der eigentlichen Qualifizierung.“ Das verschwende nicht nur volkswirtschaftliches Potenzial, sondern erzeuge auch Ablehnung gegen die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse – zumal die meisten Betroffenen dauerhaft, teils lebenslang aus dem Hilfsbedarf zum Lebensunterhalt nicht hinauskämen.
Abhilfe könnten hier eine radikale Vereinfachung des Aufenthaltsrechts mit deutlich weniger Prüfpflichten, ein erleichterter Zugang zum Arbeitsmarkt und mehr Bildungsangebote schaffen, forderte Schlee. „Kriminologisch und polizeilich ist das nicht zu fassen – das verschärft nur die gesellschaftliche Spaltung.“