München – Eigentlich hat Polen in der EU eher die Rolle einer Migranten-Festung: Das Land stemmt sich mit aller Kraft gegen Asylreformen und blockiert Einigungen zur Aufnahme von Geflüchteten. Nun steht Polens Regierung aber im Verdacht, Arbeitsmigranten illegal in die EU geschmuggelt zu haben. Laut Medienberichten sollen die Konsular-Abteilungen Polens in den vergangenen drei Jahren rund 250 000 Visa an Migranten aus Asien und Afrika gegen Schmiergelder ausgestellt haben.
Im Mittelpunkt der Affäre steht Polens Vize-Außenminister Piotr Wawrzyk. Er wurde bereits am 31. August überraschend entlassen. Laut „Bild“ soll er sogar versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Derzeit werde er in einer Klinik behandelt.
Laut der polnischen Nachrichtenseite „Onet“ bestand Wawrzyk persönlich darauf, temporäre Arbeitsvisa an ein angebliches Bollywood-Filmteam aus Indien auszustellen. Jeder der vermeintlichen Crew habe demnach bis zu 40 000 Dollar gezahlt, um von Mumbai über Europa bis in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Skurril: In Wirklichkeit habe es sich bei den Mitgliedern um Gemüsehändler und Kosmetikerinnen gehandelt. Wawrzyk habe ähnliche Befehle an polnische Konsulate in der Türkei, Thailand, Saudi-Arabien, Pakistan, Singapur, Hongkong, den Philippinen, Taiwan, Nigeria und Tansania angeordnet. In einzelnen Mails soll es um Einreisegenehmigungen für je Dutzende bis hunderte Personen nach Polen gegangen sein. Von dort aus hatten sie dann theoretisch die Möglichkeit, in jedes andere EU-Land weiterzureisen.
Die polnische Staatsanwaltschaft gab bekannt, dass sie sieben Personen wegen Korruptionsverdachts im Zusammenhang mit der Ausstellung von einigen hundert temporären Arbeitsvisa festgenommen hat. Keiner der Festgenommenen sei aber Staatsbeamter. Gegen Wawrzyk gibt es derzeit keine Anklage.
Der wichtigste Oppositionsführer Polens, Donald Tusk, bezeichnete die Vorgänge als „wahrscheinlich den größten Skandal in Polen im 21. Jahrhundert.“ Sie könnten Polens Regierung erschüttern. Trotzdem ist das Echo noch überschaubar. In Polen berichten offenbar lediglich private Medien über den Korruptionsverdacht – staatliche Sender würden das Thema ignorieren. Auch in Deutschland – das mit Polen eine Grenze teilt –, haben bislang nur wenige Medien den Vorfall aufgegriffen. Vielleicht weil das Ausmaß des Skandals für den gesamten Schengen-Raum noch unüberschaubar ist.
Tusk warf der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) angesichts ihrer harten Haltung gegen die EU-Asylpolitik Heuchelei vor. In weniger als vier Wochen ist in Polen Parlamentswahl. Noch liegt die PiS in Umfragen weit vorne. Ob das so bleibt, ist bei all den Vorwürfen um den Vize-Außenminister aber fraglich. Die Ablehnung von Migranten gehört zu ihren Kernthemen im Wahlkampf.
Die Opposition fordert nun Klarheit. „In diesem Fall wird der Ruf unseres Landes als verantwortliches Mitglied der demokratischen Gemeinschaft der freien Welt ruiniert und unsere Sicherheit gefährdet, daher muss er im Detail erklärt werden“, sagte Tomasz Grodzki von der europafreundlichen Partei Platforma Obywatelska in einer Fernsehansprache.
Die PiS hat die Opposition dagegen beschuldigt, das Ausmaß des Problems zu übertreiben. „Es gibt kein Problem mit illegalen Einwanderern in Polen“, sagte Premierminister Mateusz Morawiecki am Freitagabend und machte Oppositionsführer Tusk dafür verantwortlich, „eine alternative falsche Realität zu schaffen“. „Unregelmäßigkeiten bei einigen hundert Visa – ich wiederhole, einige hundert Visa – wurden von uns im Rahmen unserer Prüfverfahren identifiziert.“ Die polnischen Behörden hätten angemessene Maßnahmen ergriffen.
Am Freitag erklärte das polnische Außenministerium, dass man alle polnischen Konsulate im Ausland überprüfen werde. Man habe außerdem Wawrzyks Assistenten, Jakub Osajda, entlassen. Zudem wurden alle Verträge mit externen Unternehmen zur Unterstützung bei der Visaabwicklung gekündigt.
VON KATHRIN BRAUN