Neue Pandemie durch Zombie-Viren?

von Redaktion

In tauenden Gletschern und Permafrostböden lauern zehntausende Bakterien und Erreger

VON MATTHIAS BUSCH

Dass der Klimawandel Gletscher und Permafrostböden – die immerhin 15 Prozent der Erde bedecken – gefährdet, ist hinlänglich bekannt. Doch nun wird immer deutlicher, dass schmelzendes Eis und auftauende Böden auch zehntausende Viren und Bakterien freisetzen, die eine Gefahr für die Menschheit werden können. Denn die in den Tiefkühltruhen unserer Erde teils über Millionen von Jahren konservierten Mikroorganismen und Erreger erweisen sich als erschreckend lebendig: So hat der französische Wissenschaftler Jean-Michel Claverie Stämme von 48 000 Jahre alten Viren im dauergefrorenen sibirischen Boden entdeckt, die in der Lage waren, einzellige Organismen, sog. Amöben, zu infizieren. Aus sogar acht Millionen Jahre altem Eis der Antarktis stammte wohl das Bakterium Arthrobacter roseus, das Forscher im Labor teilen und vermehren konnten. In anderen Forschungsarbeiten wurden 28 prähistorische Viren in gefrorenen Eisbohrkernen gefunden, die rund 15 000 Jahre alt waren. Fünfzehn davon waren der Wissenschaft bisher unbekannt. Folgt der Klimakrise also bald eine verheerende Welle neuer Krankheitserreger?

Eine künftige Bedrohung durch sog. Zombie-Viren aus dem Eis ist bei der Fülle von Funden jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Eine aktuelle und bisher umfassendste Studie, bei der chinesische Wissenschaftler über mehrere Jahre Proben von insgesamt 38 Gletschern der Hochgebirge und Polarregionen der Welt entnommen haben, fördert nun einige beunruhigende Erkenntnisse zutage. Exakt 10 840 Arten von DNA-Viren wurden festgestellt, eine 15-fach höhere Zahl, als die Forscher angenommen hatten. Trotz der eisigen Umgebung waren diese Viren hochaktiv: Ihre Vermehrungsrate entsprach der von Viren im Ozean oder in Süßwasserseen. Die gute Nachricht: Bei 83 Prozent der gefundenen Gletscherviren handelt es sich um Bakteriophagen. Diese Viren sind auf den Befall von Bakterien spezialisiert und stellen daher zunächst keine direkte Gefahr für Menschen und Tiere dar. Allerdings: Die meisten der entdeckten Viren töten ihre bakteriellen Wirte nicht sofort. Vielmehr leben die infizierten Bakterien noch weiter, wobei es häufig zur Übertragung von Genen aus dem viralen Erbgut in das Erbgut der Wirtsbakterien kommt. Mit fatalen Folgen: Dadurch werden auch Gene übertragen, die den Bakterien Resistenzen gegen Antibiotika vermitteln. Eine besorgniserregende Analyse.

Gegen Viren sind Menschen aber ungleich schlechter gewappnet – siehe HIV und Corona. „Es ist grundsätzlich möglich, dass Viren auftauen, die den Menschen befallen können“, erklärt Permafrostforscher Guido Grosse gegenüber „Focus“. Problem: Man könne noch nicht sagen, was alles im ewigen Eis so lauere. Die Gefahr von Erregern aus dem tauenden Permafrost steige zudem durch „die Industrialisierung auch im hohen Norden“, so der Wissenschaftler. Daher stiegen die Chancen, „dass aus dem Permafrost für Säugetiere infektiöse Erreger auftauen und sie direkt auf Menschen treffen“. Oder sie finden über den Umweg infizierter Tiere zum Menschen. Wissenschaftler der Uni Ottawa (Kanada) warnen daher: „Sollte der Klimawandel auch das Artenspektrum potenzieller viraler Reservoirs nach Norden verschieben, könnte die Hocharktis zu einem fruchtbaren Boden für aufkommende Pandemien werden.“

Andere Forscher malen die Zukunft der Welt weniger schwarz. Da die Viren im Permafrostboden, im Gegensatz zum Labor, sehr instabilen Temperaturverhältnissen ausgesetzt sind – mal taut es, mal friert es – , schätzt Albert Osterhaus von der Tierärztlichen Hochschule in Hannover die Gefahr einer neuen Pandemie als eher gering ein.

Dass der Klimawandel dennoch Krankheiten in Regionen bringen kann, die bisher nicht von diesen betroffen gewesen sind, zeigt der traurige Fall des ersten Eisbären, der jüngst in Alaska nachweislich an der Vogelgrippe gestorben ist. Immer mehr Wildvögel, die das hochansteckende Virus H5N1 in sich tragen, dringen in die wärmer werdende Polarregion vor. Der Eisbär fraß wohl ein infiziertes Exemplar – sein Todesurteil.

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