Washington/Moskau – Russlands Präsident Wladimir Putin hat sich erstmals seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine ausführlich von einem US-Interviewer befragen lassen. Im Gespräch mit dem rechten Talkmaster Tucker Carlson sagte der Kremlchef unter anderem, ein Einmarsch Russlands in die Nato-Staaten Polen und Lettland stehe im Grunde „komplett außer Frage“ – mit einer Ausnahme. Auf die Frage, ob er sich ein Szenario vorstellen könne, in dem er Truppen nach Polen schicken würde, entgegnete Putin: „Nur in einem Fall: wenn Polen Russland angreift.“
Das 127 Minuten lange Interview wurde bereits am Dienstag aufgezeichnet und am Donnerstagabend zur besten Sendezeit in den USA veröffentlicht. Der für die Verbreitung von Falschmeldungen und Verschwörungstheorien bei seinem früheren Arbeitgeber „Fox News“ bekannte Fernsehmann Carlson stellte Putins langatmige Ausführungen nicht infrage. Kritiker hatten dies schon im Vorhinein als Grund ausgemacht, warum der Kremlchef dem Amerikaner ein Interview gewährt haben dürfte.
Ausflüge bis zurück ins 13. Jahrhundert
Erwartungsgemäß dominierte Putin das Gespräch, während Carlson davon absah, den Angriffskrieg gegen die Ukraine auch als solchen zu bezeichnen oder von einer Invasion zu sprechen. Putin wiederum legte dar, dass Russland überhaupt kein Interesse an Polen, Lettland oder anderen Ländern habe, Ängste vor einem russischen Angriff also unangebracht seien. „Warum sollten wir das tun? Wir haben einfach kein Interesse.“ Es widerspreche dem gesunden Menschenverstand, sich auf „eine Art globalen Krieg“ einzulassen. Den Nato-Staaten warf Putin vor, die eigene Bevölkerung mit dem Vorgaukeln einer „imaginären russischen Bedrohung“ einzuschüchtern.
Mit Blick auf den Ukraine-Krieg sagte Putin schließlich, man sei zum Dialog bereit – die Zeit für Gespräche sei gekommen, weil der Westen erkennen müsse, dass der Konflikt militärisch nicht zu gewinnen sei. „Früher oder später wird das in einer Einigung enden“, sagte Putin. „Wenn diese Erkenntnis eingesetzt hat, müssen sie (der Westen) darüber nachdenken, was als Nächstes zu tun ist.“
Das in Moskau aufgezeichnete Interview erschien auf Carlsons Website und der Plattform X. Darin machte Putin zunächst langatmige Ausführungen über die Geschichte Russlands, holte bis ins 13. Jahrhundert aus und überreichte Carlson eine Mappe mit Dokumenten, „damit Sie nicht denken, dass ich mir etwas ausdenke“. Im Verlauf des Interviews rechtfertigte er den Einmarsch in die Ukraine erneut mit angeblich historischen Gebietsansprüchen und übte scharfe Kritik an der Nato sowie den USA. Carlson ließ ihn weitestgehend ausreden und hakte selten ein, baute mitunter aber auch rhetorische Rampen für Putin. An einer Stelle unterbrach er die historischen Ausschweifungen: „Können Sie uns sagen, in welcher Zeit? Ich verliere den Überblick darüber, wo in der Geschichte wir uns befinden.“
Am Ende sprach er Putin direkt auf den in russischer Untersuchungshaft sitzenden US-Journalisten Evan Gershkovich an und fragte, ob es Chancen auf dessen Freilassung gebe. Putin gab sich gesprächsbereit und deutete die Möglichkeit eines Austauschs an: „Es macht keinen Sinn, ihn in Russland im Gefängnis zu halten.“ Die USA sollten vielmehr darüber nachdenken, wie sie zu einer Lösung beitragen könnten. Weitere Äußerungen Putins ließen sich so interpretieren, dass eine Freipressung des im Dezember 2021 verurteilten Tiergarten-Mörders Vadim K. gemeint sein könnte, der in Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.
Angebliches Treffen mit Edward Snowden
Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby, wies darauf hin, dass nichts, was in dem Interview gesagt wurde, für bare Münze zu nehmen sei. „Erinnern Sie sich daran, Sie hören Wladimir Putin zu“, sagte er.
Inzwischen hat Carlson Moskau wieder verlassen. Die Nachrichten-Website „Semafor“ berichtete, er habe sich vor seiner Abreise mit Edward Snowden getroffen. Der US-Whistleblower, der 2013 das Ausmaß der weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken der USA öffentlich gemacht hatte, lebt seit rund zehn Jahren im Exil in Russland. Nähere Details zu dem angeblichen Treffen waren zunächst nicht bekannt.