Ein Orca attackiert ein Segelboot. Seit 2020 werden Boote vor Spanien immer wieder von Orcas zerstört. © GDTOA/dpa
Madrid/Tarifa – Die idyllische Bootsfahrt im Mittelmeer geriet für eine spanische Familie binnen Sekunden zum Horrortrip. Mehrere Orcas bedrängten plötzlich das Segelschiff und rissen ein großes Stück des über zwei Meter langen Ruderblattes ab. „Ich weiß nicht, ob diese Wale wirklich nur spielen wollten oder was auch immer, aber wenn man von einem acht Meter langen und mehrere Tonnen schweren Biest angegriffen wird, das seine Zähne in Aluminium versenken kann, bekommst du es mit der Angst zu tun“, erzählte der Bootsbesitzer jüngst der spanischen Zeitung „El Mundo“. Der geplante Schiffsurlaub der Familie endete abrupt – aber die Attacken hören nicht auf.
Der letzte größere Zwischenfall ereignete sich erst am 24. Juli vor der Küste von Tarifa an der Straße von Gibraltar. Das Segelboot „Bonhomme William“ sendete sofort ein Notsignal, doch als die spanischen Einsatzkräfte eintrafen, war es schon halb untergegangen. Die drei Insassen – zwei Briten und ein Italiener – wurden rechtzeitig geborgen.
Solche Attacken – Forschende sprechen lieber von Interaktionen und gehen davon aus, dass die Schwertwale nicht in aggressiver Absicht handeln – waren bis vor wenigen Jahren unbekannt. Erste Zwischenfälle wurden im Pandemiejahr 2020 gemeldet und oft auf Video festgehalten. Da hört man die Schreie der Seeleute: „Boah, was für ein Riesenvieh!“ und „Er hat uns erwischt!“.
Die bis zu zehn Meter langen und über fünf Tonnen schweren Orcas sind die größte Art aus der Delfinfamilie und der breiten Öffentlichkeit spätestens seit der Filmreihe „Free Willy“ bekannt. Sie fressen Fische, Robben, Pinguine und Seevögel und attackieren auch Haie, Delfine und andere Wale. Auf Boote hatten sie es aber bis 2020 nicht abgesehen.
Verschiedene Maßnahmen der spanischen Behörden, wie Fahrverbote für kleinere Boote in bestimmten Meereszonen und GPS-Tracker, um Orcas zu orten und Kapitäne zu warnen, brachten wenig Erfolg. Laut der Organisation „GT Atlantic Orca“ (GTAO) gab es dieses Jahr vor den Küsten von Spanien und Portugal 84 Interaktionen. Sechs Boote seien so stark beschädigt worden, dass sie abgeschleppt werden mussten.
Die Vorfälle geben Forschern Rätsel auf. Denn obwohl Orcas weltweit leben, zeigen bisher nur Tiere in der iberischen Region das mysteriöse Verhalten. Von den 34 dort registrierten Individuen interagieren nach Erkenntnissen von GTOA nur 16 mit den Booten. Soweit bekannt tun sie das fast immer gemeinsam in der Gruppe, GTOA-Biologe Alfredo López
Warum nur diese 16? Forschende räumen ein, dass sie noch keine sicheren Antworten haben. López hat zwei Thesen: Entweder haben die hochintelligenten Tiere einfach etwas Neues erfunden – ähnlich wie jene Orcas, die in den 1980er-Jahren im Nordpazifik tote Lachse auf ihren Köpfen balancierten. „In der Gruppe ahmen sie dann einander nach“. Oder sie reagieren auf ein negatives Erlebnis, wie das Verfangen in einem Fischnetz oder eine Kollision mit einem Boot.
Auch Langeweile könnte eine Rolle spielen. In einer Studie vom Juni vermutet die Internationale Walfangkommission (IWC), dass Orcas Boote angreifen, weil es durch Fischereiverbote reichlich Thunfisch gibt. Da sie weniger Zeit mit Futtersuche verbrächten, hätten sie wohl mehr „Freizeit“ und „spielten“ mit den Schiffen.