Moskauer Metro: Mehr als Stalins Paläste fürs Volk

von Redaktion

Die Moskauer U-Bahn feiert 90. Geburtstag. © Mauder/dpa

Moskau – Ein bisschen wie ein Provisorium hängt die historische Marmortafel zur Eröffnung der Moskauer Metro an der Wand der U-Bahn-Station Sokolniki. Das passt so gar nicht zu den prunkvollen unterirdischen Palästen, für die die wohl schönste Metro der Welt berühmt ist. Der Ingenieur Daniil Schopchojew fragt bei einer Führung, ob etwas auffällt an der Tafel. Ja, klar. Metallbuchstaben zeigen den Namen W. I. Lenin. Sie sind nachträglich angebracht. Ausgelöscht ist ein anderer Name, der von Lasar Kaganowitsch. Der Vertraute von Sowjetdiktator Josef Stalin war Erbauer und erster Namensgeber der am 15. Mai 1935 eröffneten U-Bahn.

Nun feiert Europas größte Stadt mit ihren offiziell rund 13,5 Millionen Einwohnern das 90-Jährige der U-Bahn, die Bürgermeister Sergej Sobjanin weiter ausbauen will. 302 Stationen hat die Metro heute, 120 davon kamen allein seit 2010 hinzu. An der Sokolniki-Station etwa erinnert zum Geburtstag ein historischer Zug an die Jungfernfahrt der ersten Linie mit den 13 Stationen damals. Ein Bild auf dem Boden zeigt Arbeiter, die mit Bohrern einen Tunnel graben. „Die Geschichte beginnt hier“, steht in einem Schriftzug.

Nichts erinnert mehr an den Bauherrn Kaganowitsch, der wie viele aus der Stalin-Zeit wegen des kommunistischen Terrors und der politischen Säuberung in Ungnade fiel. Seit 1955 trägt die Metro den Namen Lenins, der die Vision als Verkehrsmittel der Zukunft einst gutgeheißen haben soll. Nach Stalins Tod 1953 kämpfte Nachfolger Nikita Chruschtschow mit dem Überfluss und ließ einen nüchterneren Stil durchsetzen.

Auf der berühmten braunen Ringlinie mit der Nummer fünf kreist zum Jubiläum eine Zugparade mit historischen Waggons. An der Station Poleschajewskaja ist bei einer Technik-Schau auch der sogenannte Diagnostik-Zug „Sinergija-2“ zu sehen. Eingesetzt wird er, um den Zustand der Tunnelsysteme und Gleise zu überprüfen. Heute gehört die Metro mit ihren mehr als 60 000 Beschäftigten zu den ausgefeiltesten Verkehrssystemen der Welt mit einer einzigartigen Taktung, bei der zu Spitzenzeiten etwa jede Minute ein Zug kommt. Rund neun Millionen Passagiere zählt das Unternehmen täglich.

Im Gegensatz zu New York, Budapest, Berlin oder Paris, die längst eine Metro hatten, war Moskau spät dran. „Stalin wollte, dass die U-Bahn, wenn sie schon nicht die erste ist, mit ihrer Ästhetik entzückt. Diese Paläste für das Volk sollten nicht nur die Überlegenheit des Sozialismus zeigen, sondern die Menschen überzeugen, dass sie die schönste U-Bahn der Welt haben“, sagt U-Bahn-Fahrer Schopchojew. Vergleichen konnten die Sowjetbürger mangels Reisefreiheit freilich kaum. Aber die kulturelle Einzigartigkeit der Metro, in deren Hallen es bisweilen Konzerte und viele Straßenmusiker gibt, ist unübertroffen. Sie sollte nie wie andere einfach nur funktional sein – und diente als Vorbild für viele U-Bahnen in anderen Sowjetrepubliken.

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