Der neue Reiz von Retro

von Redaktion

Friseurin Kitty Steiner (41) aus Gelsenkirchen lebt wie in den 60er-Jahren

Telefon mit Kabel: Bei Steiner ist alles retro.

Steiners Salon auf der Kronprinzenstraße in Düsseldorf könnte ebenfalls aus den 60ern stammen.

Vom Staubsauger bis zur Deckenleuchte: Friseurin Kitty Steiner aus Gelsenkirchen lebt komplett im Stil ihres Lieblingsjahrzehnts. © Christoph Reichwein/dpa (3)

Gelsenkirchen – Sie ist von Kopf bis Fuß auf die 60er eingestellt, trägt bunte Kleidung, knallige Accessoires und eine aufwendige Frisur – alles so, wie es bei den Damen vor rund 60 Jahren angesagt war.

Kitty Steiner lebt im Stil ihres Lieblingsjahrzehnts. Sie würde perfekt aufs Cover einer Mode-Illustrierten aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts passen. Wer sich bei der 41-Jährigen daheim in Gelsenkirchen oder in ihrem Friseursalon in Düsseldorf umschaut, fühlt sich auf einer Reise zurück in die Vergangenheit.

Vor allem die 1960er, aber auch die 50er-Jahre haben es ihr angetan, sind ihr Lebensthema. „Mir gefällt die Kleidung, die Frisuren – also quasi die Optik der Frauen, das Klassische, das Schöne. Ich mag gerne die Möbel, Design aus der Zeit, die Farbgebung, die Formgebung“, erzählt Kitty Steiner.

Und das zeigt sich auf jedem Quadratmeter in ihrem Zuhause: Möbel, Elektrogeräte, Tapeten, Lampen, Bilder, sogar das Wasserklosett mit Metallkette sind von ganz, ganz früher.

Die Küche im Hause Steiner ist komplett in leuchtenden Pastelltönen gehalten, stammt original aus den 50ern. Warmes Wasser kommt aus dem Boiler. Induktionsherd? Nö. Kitty Steiner kocht auf einem Schätzchen Baujahr 1958/59 – und schwört auf das gute alte Teil. Ein Blick auf Regale und in Schränke zeigt: Neben Bügeleisen oder Staubsauger sind auch viele kleine Dinge – Dosen, Verpackungen – alte Originale. Fast alle Sachen haben schon viele Jahrzehnte auf dem Buckel.

Ein Telefon mit Kabel und Wählscheibe oder auch eine alte Flimmerkiste mit Fernsehbildern in Schwarz-Weiß gehören zum Haushalt. Die Kleiderschränke platzen fast – Klamotten aus den 60er-Jahren leuchten in Gelb, Grün oder Pink durch die Glasfronten. Passende Schuhe, Hüte und Modeschmuck stapeln sich.

Was sehen Forscher hinter Retro-Trend und Nostalgiewelle? „Die Leute versuchen, sich bewusst ein bisschen aus der zeitgenössischen krisengeplagten Realität herauszukatapultieren“, sagt Trendforscher Eike Wenzel. Im Fachjargon: „Das ist Eskapismus.“ Retro-Trends gebe es in allen Zeitstufen zurück bis in die 1950er Jahre. Unter den Jüngeren könne auch schon beim Blick auf die Nullerjahre Nostalgie aufkommen. Zentraler Faktor: „Es macht vielen Menschen einfach Spaß, in eine andere Zeit einzutauchen. Es ist cool, sich in vergangene Jahrzehnte zu versetzen. Man möchte die eigene Jugend nacherleben oder die der Eltern.“

Die 60er scheinen besonders gefragt, beobachtet der Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung. Warum? „Das Wirtschaftswachstum war da schon stabil, Wissenschaft und Forschung machten enorme Fortschritte, es gab noch keinen Klimawandel und man konnte positiv in die Zukunft blicken.“ Aktuell gebe es aber auch einen Hype um die 80er und 90er.

Eine Nostalgiewelle könne auch eine Reaktion auf die Unübersichtlichkeit des aktuellen Lebens sein – unabhängig vom Alter. Nur selten leben die Leute Forscher Wenzel zufolge aber auch tatsächlich wie in der alten Zeit, deren Mode sie tragen, Autos sie fahren oder Möbel sie bestellen.

Auch Kitty Steiner lebt mit Handy und Co. im Hier und Jetzt. Auf moderne Technik kann sie nicht verzichten. Die braucht sie für den Friseursalon, oder um sich neue alte Sachen online zu kaufen. Und ihr Mann Thomas Bosbich – 50er-Jahre-Fan – kommt nicht ohne Flachbild-TV aus. „Es gibt ein modernes Gerät und das lasse ich mir auch nicht nehmen“, schmunzelt er. Auch wenn er den Flachbildschirm schon sehr hässlich findet.

In Kittys Friseursalon ist von der Trockenhaube bis zum Kaffeetässchen alles aus den 60ern. Vor allem die Frisuren. Es wird aufwendig toupiert, während alte Schlager aus dem rosa Transistorradio dudeln.

Ihren Kundinnen türme sie die Haare gerne zur damals gefragten „Banane“ oder zum „Bienenkörbchen“ auf, berichtet Kitty Steiner. Kundin Silke Schwarz gefällt’s: „Sicherlich sind die Frisuren auf eine gewisse Art und Weise voll out. Wir lieben und leben das aber.“ Das Ganze habe mehr Klasse, mehr Stil, findet sie. Es gebe nur wenige Menschen, die solche alten Schnitte handwerklich richtig gut meistern könnten, findet Schwarz.

Kitty Steiner liebt den Style der 60er – kopiert aber die Einstellungen von damals nicht. Bei der Rollenverteilung daheim herrsche Gegenwart. „Wir leben eine neuzeitliche Ehe, wir sind gleichberechtigt.“

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