Der Strandpsychologe: Statt auf der Couch sitzen Alessandro Iacubinos Patienten im Liegestuhl. © privat
Bari – Die Adria liegt ruhig im Hintergrund. Sonnenschirme und Liegestühle stehen in Reih und Glied. In der zweiten Reihe sitzt Alessandro Iacubino in einem Liegestuhl, gelocktes Haar, Sonnenbrille, blaues T-Shirt, Badehose. An seinem Sonnenschirm hängt ein Schild mit der Aufschrift „Psicologo“. Der Liegestuhl neben ihm ist frei. Willkommen beim Strandpsychologen in Italien.
Seit Mitte Juli hat der 47-Jährige Stellung an der Adria bezogen. Der Psychologe und Therapeut stammt aus Apulien, hier an der Gargano-Halbinsel bietet er seine Dienste in schweren Zeiten an. Iacubino pendelt zwischen Rodi Garganico und Torre Mileto. Montags und dienstags ist er vor Ort, morgens zwischen 10 und 13 Uhr, nachmittags zwischen 16 und 18 Uhr. Die Beratungen sind gratis. „Ich will den Menschen Orientierung geben“, sagt der Therapeut.
Offenbar ist es keine Seltenheit, dass gerade im Urlaub, wenn die Anspannungen des Alltags abfallen sollen, die Seele nicht zu baumeln, sondern zu vibrieren beginnt. Dann ist Hilfe nötig. „Der Strand eignet sich dafür ausgezeichnet“, sagt Iacubino. „Am Meer urteilen wir nicht, wir sind alle gleich.“ Sein Angebot kommt an. In den vergangenen vier Wochen haben sich nach seinen Angaben weit mehr als 100 Menschen von ihm am Strand in Apulien beraten lassen.
Auf die Idee kam Iacubino im vergangenen Jahr. Der auf Psychophysiologie spezialisierte Psychologe mit Praxis in Apricena kam beim Strandurlaub mit seinen Sonnenschirm-Nachbarn ins Gespräch. Es ging um seinen Beruf, die Vorurteile, die in Italien immer noch im Hinblick auf therapeutische Behandlungen existieren. Die Leute wurden neugierig, immer mehr neugierige Urlauber suchten Iacubino unter seinem Schirm auf.
„Die Leute wissen nicht, was wir Psychologen tun“, erklärt Iacubino. Er sieht großen Nachholbedarf bei der Aufklärung und der Erläuterung eines psychologischen Angebots für Menschen in Schwierigkeiten. „Viele Menschen in Italien denken immer noch, dass nur Verrückte zum Psychologen gehen.“ Zudem machen ihm gegenwärtige Entwicklungen Sorgen. Nach einer Untersuchung der römischen Universität Tor Vergata suchen immer mehr Menschen Rat bei der Künstlichen Intelligenz. „Das ist erschreckend“, findet Iacubino. Eine fundierte psychologische Beratung könne die KI nicht leisten.
Das ist allerdings auch nicht das Anliegen seines Angebots. „Am Strand biete ich keine wirklichen Therapiesitzungen an“, erklärt der Psychologe. Vielmehr handelt es sich aus seiner Sicht um eine kulturelle Initiative. „Ich gebe erste Basisinformationen, damit die Leute verstehen, wie sie sich weiter orientieren können bei der Sorge um ihr psychophysisches Wohlbefinden“, sagt Iacubino. Für ihn geht deshalb auch die Kritik des apulischen Psychologenverbands in die Leere. Der kritisierte, Iacubinos Angebot könne „Verwirrung stiften“.
Bei den Urlaubern kommt die Initiative an. Mit Paola, einer Italienerin, die über Angstzustände berichtete, praktizierte Iacubino Atemübungen. Mit Karin, einer Touristin aus den Niederlanden, entwickelte Iacubino einen Plan, wie sie ihre Ängste im Hinblick auf die Zukunft ihrer Töchter besser in den Griff bekommen könne. Meist sind es Frauen im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, die den Strandpsychologen aufsuchen. „Die am meisten verbreiteten Symptome sind Angstzustände, Panikattacken und Zukunftssorgen“, sagt Iacubino.
Auch nächstes Jahr wird er viel zu tun haben. Der Verband der italienischen Strandanlagenbetreiber plant eine landesweite Hilfsaktion. Iacubino soll seine Beratungen dann an Stränden in ganz Italien anbieten.JULIUS MÜLLER-MEININGEN