Die Belagerung von Sarajevo dauerte von 1992 bis 1996 und kostete unzählige Zivilisten das Leben. Womöglich auch durch Scharfschützen aus dem Ausland. © Persson/AFP
Mailand/Sarajevo – Die Gerüchte kursieren seit Jahrzehnten. Doch die Untersuchungen, wenn sie überhaupt aufgenommen wurden, versandeten. Niemand interessierte sich wirklich dafür, dass reiche Kriegstouristen, Jagd- und Waffenfanatiker während des Bosnienkrieges auf regelrechte Menschenjagd gegangen sein sollen. Als Scharfschützen in Sarajevo. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft Mailand wegen vorsätzlichen Mordes, erschwert durch Grausamkeit und niederträchtige Motive.
Zusammengetragen hat die Vorwürfe der italienische Journalist Ezio Gavazzeni. Sein Ergebnis: Unter den Freizeit-Scharfschützen, die während der Belagerung der Stadt Sarajevo in den Jahren 1992 bis 1996 von den umliegenden Hügeln der Stadt auf Zivilisten schossen, waren Italiener, Deutsche, Franzosen, Engländer und Russen – und womoglich auch Serbiens Staatsoberhaupt Aleksandar Vucic (55). Sie wurden offenbar von Mitgliedern der serbisch-bosnischen Armee des Serbenführers Radovan Karadžić von Triest über Belgrad nach Sarajevo gebracht, um dort ihrem Hobby, der Jagd, nachzugehen. Dafür bezahlten die Teilnehmer Zeugen zufolge sehr viel Geld. Anstatt auf Tiere schossen die Touristen auf Männer, Frauen und Kinder.
Einer der Hauptzeugen ist der ehemalige bosnische Geheimdienstagent Edin Subašić. Er berichtete bereits in einem 2022 veröffentlichten Dokumentarfilm mit dem Titel „Sarajevo Safari“ über die Kriegstouristen. „Was mich am meisten schockierte, war, dass die Scharfschützen wählten, ob sie einen erwachsenen Zivilisten, eine Frau, ein Kind, eine schwangere Frau, einen Soldaten töten wollten. Und alles hatte seinen Preis“, sagt Subašić in dem Film. Der Ex-Geheimagent will seine Informationen bei einem Verhör mit einem gefangenen serbischen Soldaten bekommen und sie Anfang 1994 auch an den italienischen Geheimdienst Sismi weitergegeben haben. Der Sismi beendete Subašić zufolge die Praxis, ließ aber nicht weiter ermitteln.
„Wir wissen, dass es eine Akte über die Kriegstouristen gibt“, sagt Journalist Gavazzeni. Mindestens 100 westliche Hobby-Scharfschützen hätten ab 1992 in Sarajevo auf Zivilisten geschossen. Gavazzeni behauptet, „sehr, sehr viele Italiener“ seien beteiligt gewesen. „Es waren Deutsche, Franzosen, Engländer … Menschen aus allen westlichen Ländern, die hohe Summen zahlten, um dorthin gebracht zu werden und Zivilisten zu erschießen“, sagte der Journalist nach Angaben des britischen „Guardian“. Bereits im Juli stellte er zusammen mit den Rechtsanwälten Nicola Brigida und Guido Salvini Anzeige bei der Staatsanwaltschaft.
Nach Angaben der Tageszeitung „La Repubblica“ heißt es dort unter anderem: „Ein Zeuge berichtete, dass sich unter ihnen Italiener befanden: ein Mann aus Turin, einer aus Mailand und der letzte aus Triest.“ Einer der italienischen Freizeit-Scharfschützen, die 1993 in den Hügeln oberhalb von Sarajevo identifiziert und dem italienischen Geheimdienst gemeldet wurden, stamme aus Mailand und sei Inhaber einer Privatklinik für Schönheitschirurgie gewesen. Für die Ermittler könnte es schwierig werden, aussagewillige Zeugen vor Ort zu finden. „Auch heute noch werden Zeugen vom serbischen Geheimdienst unter Druck gesetzt, die gesamte Operation geheim zu halten“, behauptet Subašić. Zudem soll auch Serbiens Präsident Vucic als junger „Freiwilliger im Bosnien-Krieg“ mit „angeblichen Expeditionen von Ausländern, die gegen hohe Geldsummen angeblich Zivilisten in der belagerten Stadt zum ,Vergnügen‘ erschossen haben, in Verbindung stehen“, berichtete Ende der Woche das italienische Onlineportal Today.
Nach der Veröffentlichung des Dokumentarfilms „Sarajevo Safari“ des slowenischen Filmemachers Miran Zupanic im Jahr 2022 erstattete auch die damalige Bürgermeisterin von Sarajevo, Benjamina Karić, Anzeige in Bosnien-Herzegowina. Sie lieferte nun auch der Mailänder Staatsanwaltschaft einen Bericht über die Taten. „Es ist klar, dass es sich hier um reiche und einflussreiche Leute handelt, Mitglieder der gesellschaftlichen Elite, für die die Jagd, ihr Hobby, monströse und unmenschliche Ausmaße angenommen hat“, sagte Karić in einem Interview mit der Zeitung „La Repubblica“.
Bei der Belagerung Sarajevos in den Jahren 1992 bis 1996 kamen mehr als 10 000 Menschen ums Leben, darunter 1600 Kinder. JMM