Stephanskirchen – Das Jahr 2012 war für Silke ein Jahr, in dem sie die vielleicht wichtigste Entscheidung ihres jungen Erwachsenenlebens traf: Nicht gleich im Anschluss an ihr Abitur auf die Universität zu gehen. „Ich war sehr unschlüssig, welchen Berufszweig ich einschlagen wollte. Der Gedanke, erst mal zu studieren und nur theoretisch zu arbeiten, hat mich nicht sehr glücklich gemacht“, erinnert sie sich. Warum sollte sie nicht ihre große Leidenschaft, das Schneidern, zum Beruf machen? „Dass das Schneidern nicht nur eine Freizeitbeschäftigung für mich ist, sondern ich es mir auch beruflich sehr gut vorstellen kann, hat sich für mich schon bei einem Praktikum während der Schulzeit bestätigt.“ Ihr Glück ist, dass beim Stephanskirchener Modelabel Marc O´Polo ein Ausbildungsplatz zur Modeschneiderin angeboten wird. Mit 19 Jahren beginnt sie die Ausbildung. Ab da ist sie im wöchentlichen Wechsel zwischen Ausbildungsbetrieb und der Städtischen Berufsschule für Bekleidung in München eingesetzt. „Dort habe ich die fachspezifische Theorie kennengelernt, zum Beispiel, welche Faserarten es gibt, wie die Rohstoffe in der Textilindustrie gewonnen werden.“ Waren- und Maschinenkunde kommen dazu. „Zusätzlich gab es Fächer wie Sozialkunde und Betriebsorganisation.“
Erlerntes wird an Übungsteilen umgesetzt
Den größten Teil der Ausbildung absolviert sie jedoch bei ihrem Ausbildungsbetrieb in der Schneiderei. Im ersten Lehrjahr lernt die angehende Modeschneiderin alles über die sogenannten Basisverarbeitungen: Etwa, auf welche verschiedenen Arten Taschen verarbeitet werden oder wie man Reißverschlüsse einsetzt. Die Praxis steht dabei im Vordergrund: „Ich durfte alles gleich an Übungsteilen umsetzen.“ Von Anfang an, erzählt sie rückblickend, sei sie ins Tagesgeschäft einbezogen worden und habe an der Fertigung von Prototypen mitarbeiten können. Dazu gehört auch der Bereich Zuschnitt, wo die Schnittmuster umgesetzt werden.
Im zweiten und dritten Lehrjahr stehen für Silke zahlreiche Übungsarbeiten auf dem Plan: Teil um Teil näht sie, die Anforderungen an Schnitttechnik und handwerkliche Fähigkeiten steigen dabei von Mal zu Mal, die Herausforderung ist nicht gerade gering. Vor allem lernt Silke dabei, mit den unterschiedlichen Stoffqualitäten umzugehen – Baumwolle und Leinen lassen sich anders verarbeiten als Seide und Jersey, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ein Meilenstein in ihrer Ausbildung ist, selbstständig ganze Prototypen, also Modelle, nähen zu dürfen. „Dabei erhielt ich Einblicke in die Modellabteilung, in der die Schnitte am Computer erstellt werden.“
Zusätzlich muss sie sich auf die Zwischenprüfung und im dritten Lehrjahr auf die Abschlussprüfung vorbereiten. Silkes Fazit über die Lehrjahre: „Ich hätte anfangs nicht erwartet, dass man die ganze Zeit über, trotz Schule, laufend kreativ arbeiten kann und dass so viel Wert auf das handwerkliche und praktische Arbeiten gelegt wird.“ Ihre Ausbilder hätten darauf geachtet, dass ihr Schützling die Freude gerade am Handwerklichen behalte und freilich das Interesse an der Mode in allen drei Lehrjahren nicht zu kurz komme. Zwar werde die Ausbildung zur Modeschneiderin als „industriell“ betitelt, ähnele in einigen Punkten aber mehr einer handwerklichen Ausbildung, schildert Silke. Zur Seite steht ihr während ihrer Ausbildungszeit eine erfahrene Schneidermeisterin. Diese habe sich in jedem Lehrjahr intensiv mit den Azubis beschäftigt, „auch über den Lehrplan hinaus“. Ihre Abteilung hätte nicht in Serie produziert, so sei mehr Raum für individuelle Ansprache gewesen und das kleine „Quäntchen mehr“, was Silke heute in ihrem Beruf zugute kommt: „Meine Ausbilderin kommt ursprünglich aus dem Handwerk und hat neben den industriellen Verarbeitungen immer auch die handwerkliche Verarbeitung erklärt.“
Abseits der großen Modemetropolen, vermutet man, ist der Beruf der Modeschneiderin nicht besonders verbreitet; es gibt nur noch wenige deutsche Unternehmen, die Prototypen selber anfertigen und zu diesem Zweck eine Modellabteilung und Schneiderei betreiben. Stephanskirchen ist nicht London oder Paris. Kann man da als junge, modeinteressierte Frau überhaupt ein „Fashion-Netzwerk“ aufbauen? Sich austauschen, über den Tellerrand blicken? Fragen, die bei der Wahl eines Ausbildungsplatzes sicher eine Rolle spielen. Bei Silke war das kein Problem: „Ich hatte schon in der Berufsschule viel Kontakt zu anderen Modenäherinnen und Schneiderinnen und dann natürlich durch die Kolleginnen und Kollegen aus meiner Abteilung.“ Praktischerweise habe sie bei Fragen stets viele Ansprechpartner um sich herum gehabt, was sich bis heute, nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung, nicht geändert habe. Die Gemeinschaft sei übrigens während der Ausbildung schon recht wichtig gewesen, beschreibt die junge Modeschneiderin. Gemeinsam hätten die Azubis aus den unterschiedlichen Abteilungen an Projekten gearbeitet.
Das alles liegt inzwischen schon einige Monate hinter ihr. Jetzt ist der Berufsalltag bei der Modeschneiderin eingekehrt: „Ich nähe hauptsächlich Prototypen für Passform- und Warentests und arbeite neue Verarbeitungen aus.“ Dabei werde sie immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt, „was meinen Alltag sehr abwechslungsreich und spannend macht. So habe ich es mir nicht nur vorgestellt, es macht mir auch viel Spaß.“