Stichwort Inklusion

Inklusion: Betriebsmodell mit Hürden

von Redaktion

Menschen mit einer Behinderung sinnvoll in den Arbeitsmarkt integrieren: Dieses Ansinnen war bei der „ChiKi“ aus Traunstein nie ein Problem, entwickelt sich aber für das Bernauer Unternehmen Jell zur scheinbar unendlichen Geschichte.

Traunstein/ Bernau – Wer bei der Chiemgauer Kiste, kurz ChiKi, Gemüse und Kräuter bestellt, unterstützt Menschen mit einer Behinderung, die ansonsten auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Chance hätten. „In einer typischen Behindertenwerkstatt wären unsere Mitarbeiter aber unterfordert“, erklärt Betriebsleiter Helmut Maiwälder.

Fünf angestellte
Arbeitnehmer

Der Biokisten-Lieferservice der Gärtnerei Großornach wird von den Chiemgau-Lebenshilfe-Werkstätten (CLW) unterstützt, es ist ein Inklusionsbetrieb mit derzeit fünf fest angestellten Menschen mit einer Behinderung. Dazu kommen ein Fahrer in Teilzeit und zwei Langzeitpraktikanten. Diese sind nach ihrem Schulabschluss durch die Lebenshilfe-Werkstätten in Traunstein und Traunreut zur ChiKi gekommen: „Wir schauen gemeinsam, welche Arbeit sie leisten können“, so Maiwälder.

Die Männer und Frauen zwischen 30 und 50 Jahren arbeiten meist 30 Stunden in der Woche, beziehen ein sozialversicherungspflichtiges Gehalt auf Basis des Mindestlohns und haben Urlaubsanspruch. „Sie leben auch selbstständig, viele in einer eigenen Wohnung.“ Für den ersten Arbeitsmarkt fehlten ihnen laut Maiwälder aber doch so manche Grundlagen, sei es der Führerschein, PC-Kenntnisse oder ein gewisses sprachliches Geschick. Bei der ChiKi bepacken sie die Gemüse-Kisten. Doch so einfach, wie das klingt, ist es für die Mitarbeiter nicht: „Sie müssen vor allem die Lieferzettel genau lesen können und die Mengenangaben beachten.“

Maiwälder ist gelernter Gärtner und hat noch eine Zusatzausbildung absolviert, um die behinderten Mitarbeiter professionell zu unterstützen. Eine Fachkraft für Arbeits- und Berufsbildung ist er nun. Aufgrund der engen Verknüpfung mit den Lebenshilfe-Werkstätten – die es seit der Nachkriegszeit in ganz Deutschland gibt, um behinderten Menschen eine Arbeits- und Lebensperspektive zu geben – ist ChiKi seit der Gründung 2008 ein Inklusionsbetrieb.

Wer aber, wie Gregor Jell aus Bernau, sein Unternehmen nachträglich fit für die Inklusion machen möchte, kann in Deutschland sein blaues Wunder erleben. Schon 2018 erzählte er den Heimatzeitungen von seinem großen Wunsch, Inklusions-Arbeitsplätze bei sich in Bernau zu schaffen. 3-D-Druck ist das Spezialgebiet des Familienunternehmens. Im persönlichen Umfeld kennt Inhaber Jell einige Menschen mit Handicap; sein Vater Gerhard Jell, Zweiter Bürgermeister von Bernau, war lange Behindertenbeauftragter der Gemeinde. Warum nicht den eigenen Betrieb für geistig und körperlich behinderte Menschen als Mitarbeiter öffnen?

„Im Moment steht das Vorhaben, ein Inklusionsbetrieb zu werden, still“, bedauert Gregor Jell. Man halte zwar fest am Ziel, 25 Prozent der Belegschaft mit Handicap-Mitarbeitern zu besetzen, könne wohl aber erst wieder 2021 damit weitermachen. Konjunkturschwankungen und Corona sind nicht der Hauptgrund dafür, dass das Projekt ins Stocken geraten ist. „Deutschlandweit fehlt es an übersichtlichen Strukturen und Transparenz für Firmen, die ernsthaft und nachhaltig Inklusion wollen“, ist Jell nach über einjähriger, intensiver Recherche überzeugt: „Der bürokratische Aufwand ist zu komplex und zeitraubend, Informationen teils verwirrend.“ Von anderen Unternehmen weiß Jell, dass viele schon im Anfangsstadium am Behörden- und Bürokratiedschungel scheitern: „Es ist dann einfacher, die Ausgleichsabgabe zu zahlen.“

Vergabepraxis
von Fördergeldern

Konkret kritisiert Jell etwa die Vergabepraxis von Fördergeldern am eigenen Beispiel: „Wir müssen, um rollstuhlgerecht zu werden, unsere Betriebsfläche um bis zu 30 Prozent erweitern. Insgesamt wollen wir zwei Millionen Euro investieren. Wir hätten uns 600000 Euro Zuschuss erhofft, würden aber nur 200000 Euro an Förderung erhalten.“

Doch als Unternehmen müsse man in Vorleistung gehen, ehe Fördergelder ausgezahlt würden: „Wer kann das schon?“ Er fragt sich, warum das Geld nicht zweckgebunden vergeben werde, „schließlich kann man genau nachweisen, wofür es ausgegeben wird.“ Und warum es nicht auch im Interesse der Banken sei, passgenaue „Inklusions“-Kredite einzurichten – denn jeder Betrieb müsse anders umrüsten, entsprechend den Bedürfnissen der Mitarbeiter.

Langer Atem
ist notwendig

Jell kommt zu dem Schluss: „Viele Richtlinien der UN-Behindertenkonvention können auf nationaler Ebene in der Praxis nicht umgesetzt werden.“ Oder nur dann, wenn der Unternehmer selbst initiativ werde, tief in die Tasche greife, einen langen Atem beweise und obendrein die Motivation nicht verliere, „in Menschen zu investieren, nicht nur in Leistung.“

So sieht es bei Unternehmen in Bayern aus

Inklusionsbetriebe sind rechtlich und wirtschaftlich selbstständige Unternehmen, unternehmensinterne Betriebe oder Abteilungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die mindestens 30 Prozent schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Aktuell bieten 88 Inklusionsbetriebe in Bayern etwa 3800 Arbeitsplätze, davon über 1700 für Menschen mit Behinderung. Für alle anderen Unternehmen gilt: Wer mehr als 20 Arbeitsplätze hat, muss per Gesetz Schwerbehinderte beschäftigen (ein Arbeitsplatz bei 20 bis 39 Arbeitsplätzen; zwei Schwerbehinderte bei 40 bis 59 Arbeitsplätzen) oder eine Ausgleichsabgabe zahlen. Im Jahr sind das je nach Unternehmensgröße zwischen 1500 und 2640 Euro. Das Geld kommt Behindertenwerkstätten zugute. Zahlen der Nachrichtenagentur dpa von 2019 zeigen, dass über 60 Prozent der Arbeitgeber in Bayern nicht genug schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Sie zahlten zuletzt 113 Millionen Euro Ausgleich – 2016 waren es noch 99 Millionen Euro. Knapp 27000 Arbeitgeber im Freistaat müssten die gesetzliche Vorgabe erfüllen, 16000 kamen laut Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg ihrer Pflicht nicht oder nicht ausreichend nach (Zahl von 2017).

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