„Das Überleben ist erst mal gesichert“

von Redaktion

Interview Stephan Semmelmayr über das Krisenjahr im Chiemgau-Tourismus

Traunstein – In der ersten Oktoberwoche platzte der Chiemgau bei den Übernachtungsbetten aus allen Nähten. Das federte in einem Corona-Jahr mit zwangsverordneten Schließungen die schlimmsten Einbußen vom Frühjahr ab. Eine weitere positive Nachricht ist, dass heuer mehr Gäste ihren Jahresurlaub hier verbrachten. Die Chiemgau-Zeitung sprach über all diese Dinge mit dem Chef des Chiemgau Tourismus e.V., Stephan Semmelmayr.

Welche Bilanz ziehen Sie bei den Übernachtungszahlen heuer beim Chiemgau-Tourismus?

Keine andere bayerische Region war Ende September mit den Übernachtungszahlen wieder im Plus. Im Oktober gab es einen regelrechten Ansturm: In der ersten Oktoberwoche konnten wir mehr Buchungen verzeichnen als 2019 im gesamten Oktober. Doch dann kam mit dem zweiten Lockdown der nächste Nackenschlag. Es ist bitter für die Gastgeber, dass die Herbstferien ebenso ausfielen wie das Weihnachtsgeschäft. Insgesamt hatten wir Glück, denn der starke Sommer hat vielen Gastgebern das Überleben erst mal gesichert. Wobei manche Betriebe besser durch die Krise kamen wie andere, die Verluste über die Schmerzgrenze hinaus hinnehmen mussten.

Worauf führen Sie die längere Verweildauer bei den Übernachtungszahlen zurück (siehe Infokasten)?

Dazu muss man ein wenig zurückschauen. Noch bis vor 20 Jahren verbrachten viele Menschen ihren Jahresurlaub bei uns. Sie blieben damals im Schnitt knapp sieben Nächte. Mit wachsender Reisetätigkeit, wurde der Chiemgau zu einer Region für einen Zweit- oder Dritturlaub, für ein verlängertes Wochenende, mal ein paar Tage. Deshalb sank der Schnitt auf zuletzt 3,9 Nächte. In diesem Jahr fielen Südtirol oder Italien aus, deshalb verbrachten viele eine oder sogar zwei Wochen bei uns. Deshalb ist der Schnitt derzeit bei 4,5 Nächten – so hoch wie in keiner anderen bayerischen Region.

Welche Urlaubsformen waren bei den Touristen besonders beliebt?

Die Pandemie ist wie ein Brennglas, auch beim Thema Urlaub. Alle boomenden Urlaubsformen waren heuer noch stärker gefragt – Urlaub auf dem Bauernhof, Campen. Die Menschen waren nach dem ersten Lockdown spürbar auf der Suche nach Abstand und Sicherheit. Sie haben ihre Unsicherheit dann aber schnell abgelegt und sich auch in Hotels wohlgefühlt. Es gab ja überall ausgereifte Hygienekonzepte.

Wie sah es mit Ausflugsmöglichkeiten aus?

Neben Urlaubern wollten auch mehr Tagesausflügler in die Berge, an die Seen und auf die Golfplätze im Chiemgau. Aber wir hatten keine Eskalation in irgendeiner Form. Und wenn das Reisen in andere Länder wieder möglich ist, werden wir das auch wieder entlastend spüren. Ich kann mir vorstellen, dass manche Einheimische dann aufatmen, denn dieser starke Sommer und Herbst haben schon auch für genervtes Augenrollen gesorgt.

Gibt es aktuelle Gespräche und Pläne mit Freizeitanbietern für nächstes Jahr?

Wir sind seit dem ersten Lockdown mit ihnen im Gespräch zum Thema Besucherlenkung. Hier geht die Entwicklung gerade in Richtung digitale Lösung. Einfaches Beispiel: Wenn jemand in München als Ziel „Chiemsee“ in sein Navi eingibt, dann sollte ihm nicht nur ein eventueller Stau gemeldet werden, sondern auch volle Parkplätze. Am besten sollte er dann alternative Ziele angezeigt bekommen. Aber so einfach, wie man sich das vorstellt, ist die Umsetzung sicher nicht.

Wie ist die Stimmung bei den Gastgebern?

Die Unsicherheit und der aktuelle Lockdown drücken natürlich gehörig aufs Gemüt! Die tatsächlichen Auswirkungen werden wir erst im Laufe des nächsten Jahres bemerken.

Wie nutzen die Gastgeber die Pause?

Ich weiß von einigen Gastgebern, die den ersten oder den aktuellen Lockdown für Renovierung oder Erweiterung nutzen. Wir unterstützen die Gastgeber, indem wir in der Chiemgau Akademie ständig Seminare anbieten, so dass man die Zeit auch für Fortbildung nutzen kann – im Bereich Social Media, Marketing oder rechtlichen Fragen.

Werden Betriebe aus Ihrem Einzugsbereich durch den zweiten Lockdown wirtschaftlich in die Knie gezwungen?

Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband rechnete am Anfang der Pandemie damit, dass rund 30 Prozent der Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe den Lockdown nicht überstehen könnten. Wir haben dazu noch keine aktuellen Zahlen, hoffen aber, dass sich die Prognose nicht bestätigt.

Besteht die Gefahr, dass Personal abwandert, zum Beispiel in die Schweiz oder nach Österreich?

Wir hatten vor Corona schon das Problem, dass Hotels wegen Personalmangels ihre Restaurants schließen mussten. Das ist eine verhängnisvolle Entwicklung, die durch die Pandemie nicht besser geworden ist. Wir sind Projektpartner beim EU-Projekt „Attraktiver Tourismus“, gemeinsam mit den Fachhochschulen Salzburg und Kufstein. In diesem Rahmen erarbeiten wir praxisnahe Strategien, um Personal zu finden und zu halten.Interview: Tanja Weichold

Das Minus dominiert die Statistik

Bei den Ankünften in Beherbergungsbetrieben verzeichnete das Chiemseer Alpenland im Oktober ein Minus von 35,5 Prozent und die Region Chiemsee-Chiemgau ein Minus von 16 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Oberbayernweit lag das Minus bei 58,1 Prozent, der Chiemgau fuhr die geringsten Verluste ein. Am schlimmsten erwischte es die Landeshauptstadt München mit einem Minus von 72,7 Prozent. Was die Übernachtungen betrifft, verzeichnete der Chiemgau neben der Zugspitzregion als einzige Region ein Plus. Dieses lag bei zwei Prozent. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer stieg auf 4,4 Tage. Von Januar bis Oktober liegen die Minuszahlen bei den Übernachtungen verglichen mit dem Vorjahr im Chiemsee-Alpenland bei einem Viertel und bei 8,7 Prozent weniger im Chiemgau. Der Oberbayern-Schnitt: minus 39,7 Prozent. Der Chiemgau führt mit 4,5 Tagen Verweildauer die oberbayerische Statistik an und liegt über dem Schnitt von 2,9.

Artikel 5 von 5