Stirbt das Maßschneider-Handwerk aus?

von Redaktion

Ob Abendkleider oder Trachten: In der Region gibt es durchaus noch Bedarf

Rosenheim/Bad Aibling – Nähnadel, Schere und ganz viel handwerkliches Geschick. Ob das traditionelle Handwerk des Maßschneiders langsam ausstirbt, kann Monika Reiter ganz klar mit „Nein“ beantworten. Die Obermeisterin der Maßschneider-Innung Rosenheim stellt klar: „Es gibt nach wie vor Kunden, die Geld für nachhaltige Mode ausgeben, die wissen wollen, was sie auf der Haut tragen und die wissen wollen, woher die Stoffe kommen.“

Die 71-Jährige betreibt ihr Mode-Atelier in Bernau am Chiemsee und ist gleichzeitig ehrenamtlich für die Innung tätig.

Das Interesse
besteht nach wie vor

Dort sind derzeit noch sieben Maßschneiderbetriebe aus der Region als Mitglieder eingetragen. Das Interesse an maßgeschneiderter Kleidung, so Reiter, bestehe nach wie vor, allerdings habe die Corona-Pandemie durchaus zahlreiche Anlässe, für die maßgeschneiderte Kleidungsstücke meist benötigt würden, verhindert. Theaterbesuche, Hochzeiten, Bälle. „Wir machen Anlass-Kleidung“, sagt Reiter.

Eine spezielle Zielgruppe für die „nachhaltige Mode“ könne sie nicht feststellen. Das Interesse reiche in alle Bevölkerungsgruppen, von jung bis alt.

Nicht nur für
Wohlhabende

Dass maßgeschneiderte Mode nur etwas für Wohlhabende sei, kann Reiter ebenfalls nicht bestätigen. Natürlich zahle man für ein angefertigtes Abendkleid oder einen maßgeschneiderten Anzug mehr als für Produkte „von der Stange“. Maßarbeit habe ihren Preis, hinzu komme das hochwertige Material. Auch Katrin Werner glaubt nicht, dass das Handwerk ausstirbt. Die Damen- und Herrenschneiderin aus Bad Aibling lege bei ihrem Sortiment – etwa Mäntel, Jacken und Kostüme – „großen Wert auf Qualität“. Sollte die Standardkleidung vereinzelten Kunden nicht passen, dann bietet auch Werner Maßanfertigungen an. „Das nehmen die Menschen immer wieder gerne an“, sagt sie. Werner selbst liegt der Beruf im Blut, zahlreiche Schneider-Generationen ihrer Familie reichen zurück bis ins 18. Jahrhundert. Die Branche, so Werner, habe – wie viele andere – coronabedingt im vergangenen Jahr einen Tiefpunkt erlebt. Seitdem gehe der Trend auch im Schneiderhandwerk in Richtung Nachhaltigkeit. Die Menschen würden ihre Kleidung generell wieder länger tragen. Angst um die Zukunft ihres Handwerks habe sie dennoch nicht.

„Es kommen relativ häufig Ausbildungs-Anfragen rein“, sagt Werner. Sie schätze ihren Beruf, arbeite gerne mit den Materialien, nähe und erschaffe damit etwas Besonderes.

An Begeisterung für den Beruf mangelt es auch Heinrich Koula nicht. Der 62-Jährige betreibt das 1897 in Rosenheim gegründete Maßatelier in vierter Generation seit 1990. Im Jahr des 125-jährigen Betriebsjubiläums macht Koula deutlich, dass das Maßschneiderhandwerk für ihn noch immer ein „wunderschöner, erfüllender und befriedigender Beruf“ sei.

An Kunden
mangelt es nicht

Wenn ein Kleidungsstück fertig und der Kunde zufrieden und begeistert ist, „dann weiß man, was man geschafft hat“, so Koula, der beispielsweise Anzüge, Bekleidung „für fürstliche Anlässe“ oder sportliche Freizeithosen maßschneidert.

An Kunden mangele es ihm nicht. „Es wird immer Menschen geben, die bereit sind, etwas mehr Geld für maßgeschneiderte Kleidung auszugeben“, ist sich Koula sicher. „Wer einmal das Gefühl hatte, dass die Hose oder das Sakko richtig sitzt, der will das auch wieder haben.“ Er fertige Produkte mit „Suchtpotenzial“, so die Rückmeldung seiner Kunden. Für einen zweiteiligen Anzug kalkuliert Koula etwa 40 Arbeitsstunden, für einen dreiteiligen 50. Je nachdem, ob der Anzug mit mehr Maschinenanteil oder in reiner Handarbeit angefertigt wurde, variiere auch die Preisspanne, die zwischen 1600 und 3000 Euro beginne. Selbstverständlich sprechen diese Preise nicht jedes Publikum an, erklärt Koula.

Doch bei aller Begeisterung für seinen Beruf weiß auch der 62-Jährige, der als stellvertretender Obermeister ebenfalls für die Maßschneider-Innung tätig ist, um die Probleme seiner Branche. Zum einen werde „mit dem Begriff ‚Maß‘ viel Schindluder getrieben“, da mittlerweile jede Branche „maßgeschneiderte Produkte“ anbiete. Zum anderen gibt es Nachwuchssorgen. Grundsätzlich, so Koula, gebe es zwar interessierte junge Leute. Die Schwierigkeit beginne jedoch nach der Ausbildung.

„Nachdem die Betriebe viel Geld in die Ausbildung gesteckt haben, sind die frischgebackenen Gesellen danach oft weg“, so Koula. Viele versuchten, sich nach der Lehre weiterzubilden, etwa mit einem Design-Studium.

Deshalb seien die Betriebe, von denen es nicht mehr viele gibt, nicht mehr bereit, Geld in die Ausbildung zu stecken. „Deshalb stirbt der Beruf leider langsam aus“, sagt Koula, dessen Betrieb – „der letzte Herren-Maßschneider in Rosenheim“ – keinen Nachfolger mehr hervorbringen wird. „Meine beiden Söhne werden beziehungsweise sind Ingenieure“, sagt Koula. Er selbst denkt noch nicht ans Aufhören im Atelier.

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