Gericht zieht Konsequenzen: Dringender Tatverdacht aufgelöst

von Redaktion

Die Chronologie der Ereignisse Prozess um Tod von Hanna aus Aschau im Chiemgau – Gutachten attestiert Adrian M. keine bis geringe Glaubwürdigkeit

Aschau/Traunstein – Die Tragödie um den Tod der 23-jährigen Studentin Hanna W. aus Aschau im Chiemgau hält die Menschen in der Region noch immer in Atem.

Am 3. Oktober 2022 gegen 14.30 Uhr entdeckt ein Spaziergänger nahe Kaltenbach in der Prien den leblosen Körper einer jungen Frau. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Hanna W. Die 23-jährige Medizinstudentin hatte sich nach einem Besuch des Clubs „Eiskeller“ in Aschau kurz vor halb 3 Uhr morgens auf den Heimweg gemacht. Zu Hause kam sie nie an. Die Gerichtsmediziner legen sich in der Nacht auf den 4. Oktober auf ein Gewaltverbrechen fest.

Sonderkommission
und Hunderte Zeugen

Die Polizei richtet eine Sonderkommission ein, mit bis zu 60 Beamten. Die Beamten vernehmen Hunderte von Zeugen. Am Ende werden sie über 1200 Zeugengespräche geführt haben.

Unter anderem mit dem Mann, der schließlich am 18. November 2022 als dringend tatverdächtig festgenommen wird: Sebastian T., 20 Jahre alt, ebenfalls aus Aschau. Er war als Jogger in jener Nacht unterwegs gewesen. Ermittlungen in seinem persönlichen Umfeld wecken Verdacht. Ab 12. Oktober 2023 muss er sich vor der Zweiten Jugendkammer des Landgerichts Traunstein verantworten. Wegen Mordes aus Heimtücke. Es beginnt ein Prozess, den die Region so noch nicht erlebt hat.

Früh sagt eine junge Frau aus, die Sebastian T. seit Schulzeiten kennt. Sie war es, die Sebastian T. schwer belastet hatte. Und zwar unabsichtlich. Bei der Vernehmung plaudert sie, dass Sebastian T. sie am Abend des 3. Oktober gefragt habe. Ob sie wisse, dass am selben Tag in Aschau eine junge Frau umgebracht worden sei. Derlei könnte nur der Täter wissen. Doch vor Gericht kann sich die Zeugin nicht präzise erinnern. Anders der Zeuge, den Staatsanwalt Wolfgang Fiedler überraschend laden kann: Aus der U-Haft in Traunstein hat sich ein Häftling gemeldet. Ihm soll T. gestanden haben, dass er Hanna umgebracht habe.

Die nächste Überraschung: Die Familie des Angeklagten verpflichtet Mitte November 2023, neben den beiden Pflichtverteidigern Harald Baumgärtl und Dr. Markus Frank, die Münchner Anwältin Regina Rick. Sie hat für Aufsehen gesorgt, als sie den angeblichen Badewannen-Mörder Manfred Genditzki freibekam. Nach 13 Jahren im Gefängnis!

Von nun an wird der Ton im Gericht rauer. Einmal bringt Regina Rick Manfred Genditzki sogar mit in den Saal. Die beiden wollen abends zusammen im Jahresrückblick von RTL auftreten. In Traunstein kommt‘s nicht gut an. Von Zirkus spricht Chefermittler Hans-Peter Butz. Immer wieder eckt Rick an, wiederholt wird sie von Richterin Jacqueline Aßbichler ins Gebet genommen. Staatsanwalt Fiedler nennt ihr Vorgehen „schäbig und unmoralisch“.

Als Einzelgänger
beschrieben

Als Einzelgänger beschreiben diverse Zeugen den Angeklagten. Dr. Rainer Huppert, der psychiatrische Gutachter, bezeichnet ihn als sozial isoliert. T. habe sich zögerlich entwickelt, es komme eine Verurteilung nach Jugendstrafrecht in Betracht. Heißt: höchstens 15 Jahre. Was die Zeugen noch sagen: T.s Verhalten habe sich nach dem 3. Oktober verändert. Er sei bei der Familie seiner Schulfreundin regelrecht untergetaucht, habe exzessiv Alkohol getrunken. Bei einem bezechten Abend habe er Befremdliches gesagt: „Ja, gut, dann war ich‘s halt.“

Kann Hanna ohne Fremdeinwirkung ums Leben gekommen sein? Das Trio der Verteidigung setzt auf die Unfallthese. Hanna sei versehentlich ins Wasser des Bärbachs gestürzt, dann in die Prien gerissen worden. Dabei habe sie sich ihre Verletzungen zugezogen, die Wunden am Kopf, den gebrochenen Halswirbel, vor allem die symmetrisch gebrochenen Schulterdächer. Einen letzten Notruf um 2.32 Uhr, der ihr Elternhaus nie erreichte, habe sie möglicherweise im Wasser treibend abgesetzt.

Doch da ist die Zeugin, die am 3. Oktober 2022 gegen halb 3 einen Schrei „wie in Todesangst“ gehört hat. Und da sind die Gutachter, Prof. Dr. Jiri Adamec und Prof. Dr. Andreas Malcherek, die die Unfallthese sprengen: Die Verletzungen könnten – wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit – einzeln durch das Treiben des Körpers in der Prien erklärt werden. Nicht aber ihr Gesamtbild.

Über 20 Beweisanträge stellt die Verteidigung. Viele haben mit Handys und ihren Datenspuren zu tun. Ganze Verhandlungstage geht es um diese Daten. Letztendlich bleibt der Ertrag überschaubar. Durch den Zeitpunkt des letzten Notrufs um 2.32 Uhr und das Verschwimmen der GPS-Peilung kurz darauf – da dürfte Hannas Mobiltelefon in den Bach gefallen sein – ließe sich ableiten, dass ein Angriff auf Hanna 86 Sekunden gedauert hat. Oder auch nicht: Niemand weiß, unter welchen Umständen das Handy ins Wasser gelangt ist.

Viele Indizien, unklare Zeugenaussagen. Die Bedeutung des JVA-Zeugen wächst, je länger der Prozess dauert. Seiner Schilderung folgend, stimmen sich Staatsanwalt Fiedler und Richterin Aßbichler auf einen neuen Tatvorwurf ab: Der Angeklagte soll Hanna niedergeschlagen haben, um sie wehrlos zu machen. Als ihm bewusst wurde, was er angerichtet habe, soll er sie zur Vertuschung seiner Tat in den Bärbach geworfen haben. Dort sei Hanna ertrunken.

E-Mail-Austausch:
Befangenheitsantrag

Gefährliche Körperverletzung plus Mord in Verdeckungsabsicht stehe nun im Raum, diesen „rechtlichen Hinweis“ gibt die Richterin am 4. Januar. In ihrem E-Mail-Austausch mit dem Staatsanwalt, seltsamerweise in den Ermittlungsakten festgehalten, sieht Regina Rick den Anlass für einen Befangenheitsantrag. Dem wird nicht stattgegeben. Ein Fehler, wie sich herausstellen wird. Am 19. März fällt das Urteil: Neun Jahre Jugendstrafe für Sebastian T. Das Urteil wird nicht rechtskräftig, da der Angeklagte über seine Anwälte Revision einlegen lässt. Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe prüft lang und sorgfältig. Derweil steht die Verhandlung gegen den JVA-Zeugen an. Verurteilt wird Adrian M. am 18. April 2024, gut einen Monat nach Sebastian T., zu vier Jahren und vier Monaten. Wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern ohne Körperkontakt. Ziemlich genau ein Jahr später, am 16. April 2025, verkündet der BGH seine Entscheidung – und rüffelt damit beide Jugendkammern des Landgerichts Traunstein. Die Zweite Jugendkammer, weil die Richter in Karlsruhe im E-Mail-Austausch tatsächlich Anlass zur Sorge vor Befangenheit erkannten. Und die Erste Jugendkammer, weil sie den Befangenheitsantrag nicht hätte ablehnen dürfen. Ein Verfahrensfehler, der die Neuauflage des Prozesses nötig macht. Der Prozess wird an das Landgericht Traunstein zurückverwiesen. Voraussichtlich ab September 2025 soll das Verfahren neu aufgerollt werden.

Am 17. Mai 2025 wird bekannt, dass sich das Team der Verteidiger verkleinert. Es bleiben Regina Rick und Dr. Yves Georg. Es gehen Harald Baumgärtl und Dr. Markus Frank, die als Pflichtverteidiger bestellt gewesen waren. Vier Verteidiger sind nun wirklich nicht nötig, das Gericht entpflichtet die beiden Rosenheimer Rechtsanwälte.

Jedem, der den Prozess verfolgt, ist klar, dass der JVA-Zeuge die entscheidende Figur ist. Wie glaubwürdig ist der Zeuge, wie glaubhaft seine Aussage? Das Landgericht selbst gibt ein Gutachten bei Prof. Dr. Max Steller in Auftrag. Es wird für den Spätsommer erwartet. Die Verteidiger sind derweil nicht untätig. Sie lassen drei neue Gutachten erstellen, unter anderem, was das Verhalten im Wasser treibender Körper betrifft. Das alles schon mal für die Haftprüfung, die für den 16. Juni angesetzt wird.

Freitag, der 13.: Für Sebastian T. und seine Verteidiger ein besonderer Tag – ein Glückstag, wie sich eine Woche später herausstellen wird. Denn es ist wichtige Post eingetroffen. Mit dem Gutachten Max Stellers. An diesem 13. Juni 2025 gibt das Gericht bekannt, dass der Haftprüfungstermin verschoben wird. Da das Steller-Gutachten entscheidend sein könnte, einigt man sich darauf, die Aussetzung der Haft erst am 25. Juni zu prüfen. Am Morgen des 20. Juni nehmen die Verteidiger Einsicht in das Gutachten. Und sind zufrieden. Denn der Gutachter attestiert Adrian M. geringe oder gar keine Glaubwürdigkeit. Das Gericht zieht die Konsequenzen und hebt die Haft auf. Denn aufgrund des Gutachtens löst sich der dringende Tatverdacht gegen Sebastian T. auf. Und damit der Grund für seine U-Haft. Regina Rick fährt nach Traunstein – und holt Sebastian T. nach zwei Jahren hinter Gittern ab.

„Für Hannas Eltern
ist das schwierig“

Walter Holderle vertritt die Eltern von Hanna. Und kommentiert die Haftaussetzung so: „Für Hannas Eltern ist das schwierig.“ Sie seien bodenständige Leute, die an den Rechtsstaat glauben und sich davon überzeugt hätten, dass sich das Gericht im ersten Prozess bemüht habe. „Sie gehen davon aus, dass auch das jetzt zuständige Gericht die Angelegenheit korrekt und sorgfältig behandelt“, sagt Holderle. „Sie werden die Entscheidung akzeptieren.“ Michael Weiser

Artikel 2 von 6