Ifo-Institut

„Absurdes System“: Mehr brutto führt bei Armen zu weniger netto

von Redaktion

München – Die dritte Auflage der Großen Koalition ist noch nicht in trockenen Tüchern, da wird die neue Bundesregierung bereits mit Forderungen konfrontiert. Eine bemerkenswerte erhebt das renommierte Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung und macht sich dabei für einkommensschwache Familien stark. „Wir haben in Deutschland ein völlig absurdes System“, sagt der Ifo-Chef des Zentrums für Makroökonomik, Andreas Peichl. Bei Alleinerziehenden mit Kindern, die ein monatliches Bruttoeinkommen zwischen 1700 und 2350 Euro beziehen, würde nämlich das Nettoeinkommen mit jedem hinzuverdienten Euro sinken. „Mehr brutto führt also zu weniger netto“, stellt der Wissenschaftler klar.

Für diese Ungerechtigkeit macht er ein fatales Zusammenspiel zwischen wegfallenden Sozialleistungen, Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen verantwortlich. Bei Geringverdienenden werden zustehende Leistungen der Grundsicherung ebenso wie Wohngeld oder Kinderzuschlag mit steigendem Einkommen abgeschmolzen und das übermäßig radikal. Ab einem Hinzuverdienst von 100 Euro, betrügen die Entzugsraten in der Grundsicherung 80 bis 100 Prozent, beim Kinderzuschlag 50 Prozent und nur beim Wohngeld weniger als die Hälfte, bilanziert Ifo.

Noch drastischer falle die Gesamtbelastung unter Hinzurechnung von Einkommensteuer und Sozialabgaben aus. Betroffene hätten dann trotz höherer Verdienste am Ende weniger in der Tasche, weil der umfangreiche Entzug von Transferleistungen faktisch wie eine zusätzliche Steuer wirke. „Verteilungspolitisch ist das höchst ungerecht“, betont Peichl. Zudem bestünde für genannte Einkommensgruppen keinerlei Anreiz mehr, eine zusätzliche Beschäftigung anzunehmen.

Neu sei dieser Missstand nicht. Das Münchner Institut reklamiert für sich, schon vor 40 Jahren erstmals kritisch auf die beschriebenen Mechanismen hingewiesen zu haben. Die Politik verschleppe das Problem aber seit Jahren. Es sei höchste Zeit, dass sie nun in Form der Großen Koalition handle. Eine Lösung könne darin bestehen, den Anteil bei steigendem Einkommen wegfallender Transferleistungen im unteren Bereich auf 70 bis 80 Prozent zu begrenzen. So wäre gesichert, dass von einem zuverdienten Euro zumindest 20 bis 30 Cent in der Haushaltskasse ankommen. Um zu einer solchen Systemänderung zu kommen, müssten sich unterschiedliche Ministerien und Institutionen auf eine koordinierte Politik verständigen. „Daran hapert es gewaltig“, stellt Peichl fest. Gleichwohl sei die angemahnte Reform keine Utopie. So seien in Dänemark Sozialabgaben und und Einkommensteuer in einem System integriert, was Sprungstellen wie in Deutschland mit weniger netto bei mehr brutto verhindert. In anderen Ländern gebe es Instrumente wie negative Einkommensteuer für Geringverdienende. t. magenheim-hörmann

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