An den Aktienmärkten geht es rund: Es sind die Notenbanken und die Möglichkeit steigender Zinsen, die in den USA und Europa die Börsen bewegen. Über Kursturbulenzen, Inflation, EZB-Politik und die Bedeutung von Bildung sprachen wir mit dem Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer.
-Die US-Börse ist vergangene Woche in schwere Turbulenzen geraten. Ist das eine gesunde Korrektur oder droht ein Crash?
Seit dem Tiefpunkt während der Finanzkrise vor neun Jahren sind die Kurse amerikanischer Aktien um mehr als 300 Prozent gestiegen. Vor Ausbruch der jüngsten Turbulenzen waren US-Aktien einfach viel zu teuer. Das gilt umso mehr, als die Renditen von US-Staats- und Unternehmensanleihen seit Mitte Dezember deutlich gestiegen sind und Anleihen so zu einer neuen Konkurrenz für US-Aktien wurden. Eine Korrektur der Aktienkurse war also überfällig. Negative Folgen für die US-Wirtschaft erwarte ich aber nicht, da die meisten Investoren Aktien nicht auf Pump gekauft haben und deshalb nicht weniger konsumieren werden.
-Was bedeutet das für deutsche Anleger?
Wenn die US-Aktienmärkte einbrechen, gehen zeitweise natürlich auch die deutschen Werte in die Knie. Aber europäische Aktien sind im Gegensatz zu US-Aktien nicht überbewertet. Deshalb haben sie viel bessere Chancen, sich später zu erholen. Dies gilt umso mehr, als die EZB anders als die US-Notenbank nur sehr langsam aus der lockeren Geldpolitik aussteigen wird. Schließlich herrscht im Euroraum noch immer Massenarbeitslosigkeit und der EZB-Rat wird von Vertretern der hochverschuldeten Länder dominiert.
-In den USA sinken die Unternehmenssteuern. Muss Deutschland da nachziehen?
Ich habe mich gewundert, wie wichtig die US-Steuerreform in Deutschland genommen wird. Um das mobile Kapital im Land zu halten, haben doch viele Staaten in den zurückliegenden Jahren ihre Unternehmenssteuern gesenkt. Die Amerikaner haben jetzt nachgezogen, weil ihre Steuersätze zuvor über dem Durchschnitt der Industrieländer lagen. Ich sehe das nicht so dramatisch.
-Also kein akuter Handlungsbedarf?
Nein. Aber man sollte bedenken, dass die Unternehmen durch den Koalitionsvertrag auch belastet werden, wenn zum Beispiel die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung wieder eingeführt wird. Zum Glück ist nach den Koalitionsverhandlungen wenigstens die Erhöhung des Spitzensteuersatzes vom Tisch. Es wäre mit Blick auf die US-Steuerreform kontraproduktiv gewesen, wenn die Unternehmer hierzulande höhere Spitzensteuersätze hätten zahlen müssen.
-Zuletzt gab es immer wieder Studien, nach denen die finanzielle Ungleichheit weltweit wächst. Wie problematisch kann das für eine Gesellschaft werden?
Es kommt darauf an, welche Ungleichheit man meint. Die Vermögen sind in Deutschland traditionell ungleich verteilt, weil Unternehmer-Familien naturgemäß das Produktivvermögen besitzen. Wichtiger ist aber die Verteilung der Einkommen, und die sind hierzulande im Vergleich zu anderen Ländern nicht sonderlich ungleich verteilt. Das liegt auch daran, dass wir ein Steuer- und Abgabensystem haben, das sehr stark umverteilt. In den letzten Jahren ist die Einkommens-Ungleichheit sogar zurückgegangen, weil wir einen Beschäftigungsrekord haben und Menschen mit Arbeit höhere Einkommen haben als solche ohne Arbeit. Allerdings sollten wir uns darauf nicht ausruhen, denn die Digitalisierung schreitet voran.
-Was hat Digitalisierung mit Ungleichheit zu tun?
Die Digitalisierung entwertet die Arbeit von Menschen, die keine gute Ausbildung haben. Dagegen profitieren junge, Internet-affine Fachkräfte. Wenn man nicht will, dass die Digitalisierung zu einer weiteren Ungleichheit führt, sind massive Anstrengungen im Bildungsbereich notwendig.
-Das Thema Bildung läuft in Deutschland immer eher nebenbei.
Ja. Eltern, die es sich leisten können, ziehen in sogenannte gute Viertel, um ihren Kindern bessere Schulen bieten zu können. In Ballungsräumen boomen auch die Privatschulen. Das alles sind Anzeichen dafür, dass im schulischen Bereich etwas im Argen liegt. Hier muss der Staat ansetzen.
-Was müsste konkret geschehen?
Geld ist nur eine Sache, vielleicht nicht einmal die wichtigste. Es geht vielmehr darum, dass man Änderungen in den Köpfen erreicht. Qualität und Leistung müssen in den Schulen wieder die Hauptrolle spielen. Das Bildungssystem muss weg von einer Inflation der Noten und einem statistisch hohen Anteil von Kindern mit Abitur.
-Was meinen Sie?
Man muss wieder mehr Wert legen auf scheinbar altmodische Dinge wie die Fähigkeit, korrekt zu schreiben, sich klar auszudrücken oder die Grundrechenarten zu beherrschen. An höheren Schulen muss es darüber hinaus um klassische Bildungsinhalte, um einen Bildungskanon gehen. So müssen Gymnasiasten die wichtigsten literarischen Werke kennen und im Geschichtsunterricht auch Daten lernen.
-Auch Unternehmen, die Lehrlinge suchen, klagen.
Ich höre das auch immer wieder von unseren Kunden, dass sie häufig nicht genügend junge Leute finden, die von ihrer schulischen Bildung her überhaupt in der Lage sind, eine Lehre zu absolvieren.
-Was kann der Staat dagegen tun?
In der jetzigen Phase sind Investitionen in die Schulgebäude und die Anstellung neuer Lehrer wichtig – und zwar in allen Vierteln der Großstädte, nicht nur in den vermeintlich guten.
-Das Geld haben die öffentlichen Kassen dank der Nullzins-Ära ja derzeit.
Das Geld wäre da, wenn man es nicht zu sehr in den Konsum stecken würde.
-Thema Nullzins: Bei der letzten Sitzung der EZB hatten viele erwartet, dass angesichts guter Konjunkturdaten EZB-Präsident Mario Draghi einen etwas früheren Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik andeuten würde. Das hat er nicht getan. Was hat das nun für Folgen?
Draghi hat alles getan, um Spekulationen auf Zinserhöhungen zu dämpfen. Er hat de facto sogar eine Zinserhöhung für dieses Jahr ausgeschlossen, was für einen Zentralbanker sehr ungewöhnlich ist. Damit hat er wieder einmal klargemacht, dass die EZB sehr langsam aus ihrer lockeren Geldpolitik aussteigen wird. Leider werden die Anleger noch lange mit den niedrigen Zinsen leben müssen. Auf der verzweifelten Suche nach Ertrag werden viele eigentlich zu große Risiken eingehen. Das erklärt auch, warum die Immobilienpreise in vielen deutschen Städten so stark steigen. Daraus erwachsen Risiken. Es kann sein, dass wir in ein paar Jahren eine Immobilienblase haben, die durch die viel zu niedrigen Zinsen befördert wird. Und eine Blase am Immobilienmarkt ist gefährlicher als eine am Aktienmarkt.
-Warum kommt eigentlich die Inflation trotz aller Bemühungen der EZB nicht richtig in Gang?
Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Es gibt viele Antwortversuche. Trotz boomender Arbeitsmärkte wie etwa in Deutschland oder den USA steigen die Güterpreise nur moderat. Das hat viel mit der Globalisierung zu tun. Die Unternehmen produzieren heute entlang globaler Produktionsketten. Wenn in einem Land Arbeit knapper wird, wird die Produktion in andere Länder verschoben. Dadurch haben die Gewerkschaften eine schwächere Verhandlungsposition. Wir haben es zu tun mit einer Globalisierung der Inflation. Und das heißt, die Inflationsrate wird noch auf viele Jahre unter dem liegen, was die EZB anstrebt. Zudem ist schon der nächste Inflationsdämpfer im Anmarsch: die Digitalisierung. Auch sie wird die Position der Arbeit schwächen.
-Das heißt, die Geldpolitik der Zentralbank wirkt nicht?
Nein, sie wirkt nicht richtig. Die Zentralbanken verlieren zunehmend Einfluss auf die Inflation. Globale Faktoren, die sie nicht steuern können, treten in den Vordergrund. Die Inflation ist unvermeidlich niedrig. Dagegen sollte sich die EZB nicht stemmen. Tut sie es doch und gibt Vollgas, treibt sie nur die Immobilienpreise nach oben und riskiert gefährliche Blasen.
-In Deutschland läuft die Konjunktur gut. Bleibt das vorerst so?
Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft ist gemessen am Ifo-Geschäftsklimaindex so gut wie seit dem Jahr 1969 nicht mehr. Damals herrschte ein Boom mit einer Arbeitslosenquote unter einem Prozent. Für dieses Jahr erwarten wir ein Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent, was für deutsche Verhältnisse sehr viel ist. So könnte es noch einige Jahre weitergehen.
-Keine Risiken?
Doch. Unter der glänzenden Oberfläche gibt es eine Menge Fehlentwicklungen und Risiken. Das eine ist der Immobilienmarkt. Das andere ist die Unterfinanzierung der Infrastruktur. Viele Unternehmen klagen zu Recht über den schlechten Zustand von Straßen und Brücken sowie über langsame Internetverbindungen, die mittlerweile in Portugal besser sind als bei uns. Wie sollen unsere tollen mittelständischen Weltmarktführer die Digitalisierung in die Welt verkaufen, wenn sie selbst nicht schnell genug ins Internet kommen? Aber all diese Probleme werden nicht so schnell aufs Wirtschaftswachstum durchschlagen, weil die EZB mit ihrer lockeren Geldpolitik die Nachfrage anfacht.
Interview: Corinna Maier