Die Abgeordneten im britischen Unterhaus haben ein Brexit-Abkommen mit der EU abgelehnt. Die Wirtschaft interessiert jetzt eines: Können Unternehmen nach dem 29. März weiter uneingeschränkt Handel mit Großbritannien treiben? Wir sprachen mit dem Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, über das Drama in London und eine Mitschuld der EU.
Die Zunft der Ökonomen ist gespalten: Viele befürchten einen harten Brexit, andere Volkswirte glauben, dass es eine zweite Volksabstimmung geben wird und der Brexit doch noch abgeblasen wird. Wer hat Recht?
Dass es eine Spaltung unter den Ökonomen gibt, ist nicht ganz richtig. Ich kenne keinen Volkswirt, der sagt: Dieses oder jenes Szenario tritt mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von beispielsweise 80 Prozent ein. Alle sind recht unsicher, wie das Brexit-Drama am Ende ausgeht.
Womit rechnen Sie?
Ich rechne wie die meisten Volkswirte damit, dass die Regierung May zunächst Zeit kaufen wird. Mithilfe von Artikel 50 des EU-Vertrags dürfte der Brexit-Termin zumindest um drei Monate verschoben werden.
Was passiert innerhalb der gewonnenen Zeit?
Ich denke, es wird die Einsicht reifen, eine zweite Volksbefragung durchzuführen. Das halte ich für etwas wahrscheinlicher als einen harten Brexit – 40 Prozent Wahrscheinlichkeit für ein neues Referendum, 30 Prozent Wahrscheinlichkeit für einen harten Brexit. Nur 20 Prozent gebe ich der Möglichkeit, dass die Nachverhandlungen mit der EU erfolgreich sein werden. Und dass die Regierung May den Brexit-Antrag in letzter Minute zurückzieht, halte ich für nahezu ausgeschlossen – die Wahrscheinlichkeit liegt allenfalls bei 10 Prozent.
Nehmen wir einmal an, es kommt – wie von Ihnen vermutet – zu einer Volksbefragung: Laut Umfragen ist unklar, ob die Brexit-Befürworter oder die Gegner diese Abstimmung gewinnen würden. Würde ein neues Referendum die gesellschaftliche Spaltung in Großbritannien nicht noch mehr zementieren?
Das mag sein. Aber jede Option hat ihre Vor- und ihre Nachteile. Es gibt leider keine einfache Lösung in der Brexit-Frage. Natürlich hofft die EU, dass die Briten noch einmal abstimmen und sich dann für einen Verbleib in der EU entscheiden. Aber das wäre eine vergiftete Lösung, weil viele Briten dann sagen werden, dass sich die Mehrheit nur aus Angst vor den negativen wirtschaftlichen Folgen eines Austritts für die EU-Mitgliedschaft entschieden hätte. All diese Probleme mit einer zweiten Volksabstimmung gäbe es nicht, wenn die EU in den Verhandlungen mit Großbritannien nicht so stur gewesen wäre.
Wie hätte sich die EU Ihrer Meinung nach stattdessen verhalten sollen?
Die EU hätte Großbritannien in der Frage der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland entgegen-kommen können. Stattdessen hat die EU Großbritannien abgestraft, um potenzielle Nachahmer im Kreis der anderen EU-Länder abzuschrecken. Das sollte die EU aber gar nicht nötig haben, da eine Mitgliedschaft in der EU eigentlich attraktiv sein sollte. Dass die EU trotzdem gegenüber Großbritannien so unnachgiebig verhandelt hat, zeigt, dass sie offenbar an ihrer eigenen Attraktivität zweifelt. Die Schuld am Brexit-Desaster liegt nicht nur an der Uneinigkeit der britischen Politiker, sondern auch an der EU.
Was müsste die EU tun?
Attraktiv ist die EU, wenn sie sich darauf beschränkt, nur das zu regeln, was die einzelnen Mitgliedsländer weniger gut regeln können. Sie sollte den Mitgliedstaaten mehr Eigenverantwortung einräumen. Die EU braucht eine Reform im Geiste der Subsidiarität, um weniger zentralistisch zu werden. Diese selbstkritische Prüfung sehe ich aber bis heute nicht.
Hätte die EU bei einer Reform auch eine ihrer vier Grundfreiheiten infrage stellen sollen? Aktuell dürfen Arbeitnehmer in jedem beliebigen EU-Land arbeiten. Bei der Brexit-Abstimmung 2016 war diese Frage der Zuwanderung von zentraler Bedeutung.
Die EU darf ihre Grundfreiheiten natürlich nicht aufgeben. Um den mit der EU ausgehandelten Deal durchs britische Unterhaus zu bekommen, hätte es aber vermutlich gereicht, wenn die EU in der Nordirland-Frage mehr auf Großbritannien zugegangen wäre.
Also Schlagbäume an der Grenze zu Nordirland?
Nein, so etwas ist heute nicht mehr nötig. Zunächst einmal: Wenn Großbritannien nicht in der Zollunion mit der EU bliebe, hätte es andere Außenzölle. Dann bräuchte man tatsächlich eine Zollgrenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland. Aber solche Zollgrenzen kann man im Zeitalter der Digitalisierung anders organisieren als mit Schlagbäumen. Zollformalitäten für Unternehmen lassen sich heute größtenteils ins Internet und ins Hinterland verlagern; für Privatleute wäre die Zollgrenze faktisch unsichtbar.
Noch bis 29. März könnte die EU den Briten entgegenkommen.
Das würde ich auch empfehlen. Aber ich glaube nicht, dass die EU von ihrer Strategie der Bestrafung abweicht.
Und am Ende hätten wir womöglich einen harten Brexit. Welche Folgen hätte das für die deutsche Wirtschaft?
Dann hätten wir eine Phase des Chaos an den Kanalhäfen. Es käme zu Nachschubproblemen für die britische Industrie. Betroffen wären auch deutsche Unternehmen, die in Großbritannien produzieren oder von dort Waren beziehen. Gut möglich, dass die britische Wirtschaft nach einem harten Brexit ein Quartal lang schrumpfen würde.
Um wie viel Prozentpunkte würde das Wachstum einbrechen?
Das kann Ihnen kein Mensch genau sagen.
Es gibt aber viele Ökonomen, die punktgenaue Prognosen abgeben.
Genau das verwundert mich. Aber es ist einfach zu unklar, wie ein harter Brexit genau aussehen wird. Natürlich dürfte es kurzfristig zu chaotischen Zuständen an den Grenzen kommen. Aber das wird nicht ewig andauern. Außerdem könnten die Briten nach einem harten Brexit in einer Übergangsphase einfach auf die Erhebung von Zöllen verzichten. Der harte Brexit schafft große Schwierigkeiten, aber er ist kein Weltuntergang.
Wie würde sich ein harter Brexit an den Finanzmärkten bemerkbar machen?
Für die meisten Anleger ist der harte Brexit nicht das Hauptszenario. Käme er trotzdem, könnte das britische Pfund durchaus um 10 bis 20 Prozent abwerten. Sicherlich würden auch die Aktienmärkte mehrere Tage heftig durchgeschüttelt. Mittelfristig ist wichtig, dass ein ordentliches Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien zustande kommt. Dann könnte man den Schaden deutlich begrenzen.
Man hat aber das Gefühl, das zentrale Problem für die deutsche Wirtschaft ist der drohende Brexit.
Das ist falsch.
Wo liegen die eigentlichen Probleme?
Natürlich wäre der Brexit ein großes Problem. Aber der von Trump angezettelte Handelskrieg mit China und der EU ist für die deutsche Wirtschaft mindestens so gefährlich. Mich wundert es, dass sich alle über das Brexit-Problem aufregen und kaum jemand darüber redet, dass es im Handelsstreit zwischen der EU und den USA nur einen Waffenstillstand gibt. Warum senkt die EU ihre Autozölle nicht auf das niedrigere US-Niveau? Dann könnte sie Trump Wind aus den Segeln nehmen, damit er die angedrohten Strafzölle auf Autos aus der EU vom Tisch nimmt. Anstatt sich über die Briten moralisch zu erheben, sollte die EU lieber eine kluge Strategie im Umgang mit Trump finden. Interview: Sebastian Hölzle