Keine Ideallösung, aber ein praktikabler Ansatz: Sechs Ökonomen haben einen Vorschlag formuliert, wie die wirtschaftlichen Folgen eines Brexits minimiert werden könnten (siehe Kasten). Einer der Unterzeichner ist der Volkswirt Gabriel Felbermayr. Der Österreicher leitet in München das Ifo-Zentrum für Außenwirtschaft, in wenigen Monaten soll er in Kiel die Präsidentschaft des Instituts für Weltwirtschaft übernehmen.
Mitten in der festgefahrenen Situation zwischen der EU und Großbritannien plädieren Sie und fünf weitere Ökonomen für die Gründung einer Zollvereinigung. Was soll das bringen?
Die EU hat sich mit Theresa May bislang auf folgenden Kompromiss geeinigt: Sollten sich die Briten und die EU in den kommenden Jahren nicht auf ein Freihandelsabkommen einigen, das eine Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland unnötig macht, soll der sogenannte Backstop das Vereinigte Königreich dazu zwingen, in der Europäischen Zollunion zu bleiben.
Warum halten Sie das für problematisch?
Das Verbleiben in der Europäischen Zollunion ist für Großbritannien nicht annehmbar. Das kann kein Parlamentarier in London gutheißen. Denn die Zollunion, wie sie jetzt von der EU vorgeschlagen wird, gibt den Briten überhaupt kein Mitbestimmungsrecht. Brüssel würde die Zollpolitik machen und die Briten müssten das nachvollziehen und dürften nicht mitreden.
Wie sähe eine Lösung aus?
Man sollte an der Übereinkunft zwischen der EU und der Regierung May festhalten, mit einem entscheidenden Unterschied: Wir schaffen eine Zollvereinigung, die eine offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland garantieren würde. Ganz wichtig dabei: Großbritannien bekommt Sitz und Stimme in der Vereinigung. Mit Blick in die deutschen Geschichtsbücher könnte man sagen: Wir schaffen einen Europäischen Zollverein, in dem die EU und Großbritannien Mitglied sind.
Das klingt nach einer EU light. Ist eine solcher Verein nicht eine Einladung für andere Länder, aus der EU auszutreten?
Nein. Sollten die Briten Teil einer solchen EU light sein, hätten sie ja auf alle anderen EU-Institutionen keinen Zugriff mehr. Ein Zollverein würde nur den Güterhandel betreffen. Der Austausch von Dienstleistungen und die Freizügigkeit von Arbeitnehmern müsste die EU mit Großbritannien separat verhandeln. Das wichtigste Argument, warum das keiner nachmachen wird: Wir sehen in Großbritannien, wie teuer ein Austritt ist. Seit dem Referendum haben die Briten rund zweieinhalb Prozent ihrer Wirtschaftsleistung verloren. Welches andere EU-Land will sich in ein solches Chaos stürzen?
Dass die britische Wirtschaft derart eingebrochen ist, liegt auch daran, dass keiner weiß, wie es nach dem 29. März weitergeht. Wäre den Firmen bewusst, dass die Option einer Zollvereinigung besteht, hätten sie Sicherheit und das Chaos würde ausbleiben. Das könnte einen EU-Austritt attraktiv machen.
Natürlich könnten die Dänen in einem solchen Modell auf einmal sagen, wir wollen auch raus aus der EU. Aber es kommt ein zweiter Punkt ins Spiel: Jeder EU-Beitritt wird mit jedem Land separat ausgehandelt. Es stimmt nicht, dass es kein Rosinenpicken gibt. Ich kann mich gut erinnern, wie langwierig die Verhandlungen waren, als Österreich der EU beigetreten ist. Daher wird jeder EU-Austritt anders verlaufen und mit Unsicherheiten verbunden sein. Die Briten können sich einen Austritt als zweitgrößte Volkswirtschaft der EU am ehesten noch leisten. Das ist für Dänemark oder Österreich anders, da wären die Kosten eines EU-Austritts sehr viel höher. Je kleiner das Land, desto wichtiger ist die EU-Mitgliedschaft. Nachahmer wird es daher nicht geben.
Seit November ist die Einigung zwischen der EU und der Regierung Theresa May bekannt. Der Streit um die Backstop-Regel war absehbar. Warum kommen Sie und Ihre Ökonomie-Kollegen erst jetzt mit einem Alternativvorschlag um die Ecke?
Das Kompromisspapier, auf das sich die EU mit Theresa May geeinigt hat, ist 600 Seiten dick. Das ist nichts, was man sich an einem Sonntagnachmittag durchliest. Auch wir haben erst einmal Juristen gebraucht, um zu verstehen, was das alles im Detail bedeutet. Beispielsweise hat bis heute kaum jemand begriffen, dass Großbritannien eine Zollvereinbarung droht, wie sie die EU mit der Türkei hat.
Das müssen Sie erklären.
Die Konstruktion, wie sie zwischen der EU und der Türkei besteht, funktioniert nicht – und das seit Jahren. Die Türken haben überhaupt keine Anreize, nach den Regeln zu spielen, weil sie keine Mitsprache haben. Daher macht die Türkei hinter den Kulissen eine Politik, die die europäische Außenhandelspolitik kompromittiert.
Warum?
Wenn die EU mit Japan ein Freihandelsabkommen beschließt, müssen die Türken den Japanern dieselben Zugeständnisse machen wie die EU. Während die EU im Gegenzug eine Marktöffnung in Japan bekommt, bleibt der Türkei dieser Markt versperrt. Die Türkei hat daher überhaupt kein Interesse daran, dass das Abkommen zwischen der EU und Japan erfolgreich ist. Die EU hat die Türkei in eine Zollkolonie verwandelt – und den Briten droht jetzt das Gleiche. Zugegeben, der Begriff ist übertrieben, aber beschreibt den Kern: Nämlich die Aufgabe von Autonomie ohne Mitspracherecht.
Glauben Sie, dass Ihr Vorschlag eines Zollvereins bei Politikern in Kontinentaleuropa Gehör findet?
Das Problem ist, dass sich die EU hinter roten Linien eingemauert hat. Wir fordern einfach nur, dass zumindest ein bisschen Rosinenpicken erlaubt sein muss, weil das harte Ausscheiden Großbritanniens nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in jeder anderen Hinsicht eine Katastrophe wäre. Auf Alternativen hinzuweisen, das ist unsere Pflicht als Ökonomen. Nach einer Brexit-Katastrophe wollen wir uns nicht vorwerfen lassen, dass wir nicht zumindest Wege aufgezeigt haben, wie man aus dem Schlamassel wieder rauskommt. Aber jetzt ist die Politik am Zug.
Interview: Sebastian Hölzle