Berlin – Achim Berg ist erschüttert, wenn auch nicht überrascht. „Das ist mit Ansage gekommen“, stellt der Präsident des heimischen IT-Branchenverbands Bitkom in Berlin klar. Er meint damit die Explosion offener Stellen für IT-Spezialisten quer durch alle Branchen der deutschen Wirtschaft. Innerhalb eines Jahres ist die um gut die Hälfte auf nun 124 000 gesuchte Hightech-Experten gestiegen.
Das hat Bitkom in einer Befragung von 850 Geschäftsführern deutscher Unternehmen jeder Größe und aller Branchen ermittelt. Ausgenommen blieben nur Landwirte und öffentliche Verwaltungen. Bei Letzteren schätzt Bitkom den zusätzlichen Bedarf an IT-Experten auf weitere 10 000 Leute. „Das ist eine Katastrophe, die uns massiv schädigt, den Fortschritt bremst und die Wettbewerbsfähigkeit bedroht“, sagt Berg. Er meint damit nicht nur seine Branche, sondern die gesamte deutsche Wirtschaft. Denn die Digitalisierung sorgt dafür, dass Programmierer, IT-Administratoren oder Berater von so gut wie allen Unternehmen gesucht und kaum gefunden werden.
Dabei haben immer mehr Firmen fertige Digitalstrategien. Aber die Umsetzung stockt mangels Fachkräften. 83 Prozent aller befragten Firmen beklagen das laut Bitkom-Studie. Zwei Drittel rechnen mit weiterer Verschärfung der Lage in den nächsten Jahren.
Rückblickend hat sich der IT-Fachkräftemangel binnen zwei Jahren mehr als verdoppelt. Heute dauert es im Schnitt sechs Monate, bis eine freie IT-Stelle besetzt wird, weiß Berg. Bei den kurzen Entwicklungszyklen der Branche sei das eine kleine Ewigkeit. „Das kann dazu führen, dass Projekte in andere Länder verlagert werden oder überhaupt nicht zustande kommen“, warnt der Bitkom-Chef.
Woran eine Einstellung von IT-Experten in Deutschland vor allem scheitert, sind die Gehaltsvorstellungen. Das sagen fast drei Viertel aller befragten Unternehmen. Kleinere Firmen und Mittelständler sowie öffentliche Verwaltungen könnten Einstiegsgehälter, die bei 60 000 bis 70 000 Euro jährlich beginnen und bei besonders gefragten Experten auch 100 000 Euro erreichen, oft nicht bezahlen. Selbst zahlungskräftige deutsche Autobauer klagen mittlerweile, dass sie nicht mehr genug IT-Spezialisten finden. Betriebsräte und Gewerkschaften fordern deshalb nun ein Transformation-Kurzarbeitergeld, um Personal, das an traditionellen Arbeitsplätzen nicht mehr benötigt wird, staatlich gefördert umzuschulen. Aus Motorenentwicklern könne man so Programmierer machen. Auch Bitkom glaubt, dass Programmierkenntnisse per Nanodegrees oder Mikrozertifikaten mit kurzen Lernzeiten bestehendem Personal vielfach vermittelt werden können. Dazu brauche es auch steuerliche Anreize.
Die Not sei groß, mittlerweile bekäme jedes achte Unternehmen extern gar kein Angebot mehr auf eine freie IT-Stelle. Das liege auch an den Ausschreibungen, kritisiert Berg. Viele Firmen würden Bewerbungen per E-Mail oder gar schriftlicher Bewerbungsmappe fordern. „Und das bei Digitalexperten“, stöhnt Berg. Wer IT-Fachkräfte an sich binden will, müsse seine Methoden ändern. So würden erfolgreiche Unternehmen heute gezielt dort Zweigstellen eröffnen, wo neue Informatiker ausgebildet werden. Das seien aktuell Universitätsstädte wie Nürnberg, Leipzig oder Köln, weiß Berg. Metropolen wie Berlin oder München gelten als abgegrast. Berg kennt auch eine Firma, die einen neuen IT-Standort in einer Stadt gegründet hat, wo eine mit gesuchten Fachkräften bestückte Firma pleitegegangen ist. Denn die Experten kennen ihren Wert und sind oft nicht zu Umzügen bereit.
Trotz aller Probleme rechnet Bitkom dieses Jahr mit der Schaffung von 40 000 bis 50 000 neuen IT-Stellen in Deutschland. Es könnten mehr sein.