München/Berlin – Eine Brille, die den Namen, das Alter und die Telefonnummer jeder Person in Sichtweite anzeigt: So ein Gerät war schon in Science-Fiction-Filmen zu sehen. Nun arbeitet eine junge US-Firma offenbar hart daran, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Clearview AI hat öffentlich zugängliche Fotos von Millionen von Menschen ausgelesen und in einer Datenbank zur Gesichtserkennung gespeichert.
Die reine Existenz der Anwendung löst nun eine riesige Diskussion aus. Datenschützer zeigen sich alarmiert. Technik-Experten glauben, dass damit eine Grenze überschritten ist, hinter die es jetzt kein Zurück mehr gibt. Die Grünen lehnen daher die weitere Ausbreitung dieser Techniken ab. „Für solche Unternehmen müsste man den Marktzugang in der EU sperren“, sagt Digitalpolitiker Dieter Janecek dieser Zeitung. „Das Missbrauchsrisiko ist zu hoch.“ Bundesinnenminister Horst Seehofer von der CSU will dagegen die Anwendung der Gesichtserkennung ausweiten: Ein Gesetzentwurf aus seinem Hause sieht ihre Einführung an Flughäfen und Bahnhöfen vor, berichtet der „Spiegel“.
In den USA hat sich die Entwicklung in der Praxis nun von der politischen Steuerung abgekoppelt. Denn Clearview feiert einen Erfolg nach dem anderen, während das politische Washington noch mit der Technik-Folgeabschätzung ringt. Ausschüsse beschäftigen sich dort mit dem richtigen Rahmen für solche Anwendungen der künstlichen Intelligenz, während Clearview sich draußen bei über 600 Auftraggebern – vor allem Sicherheitsbehörden – im Praxiseinsatz bewährt.
Den ersten Erfolg feierte Clearview AI im Februar 2019, kurz nach Einführung des Dienstes. Die Polizei im US-Bundesstaat Indiana hatte einen Testzugang erhalten. Ihr erstes Experiment führte innerhalb weniger Minuten zur Aufklärung eines Mordes. Ein Mann hatte einen anderen auf einem Parkplatz erschossen; vom Täter gab es nur ein unscharfes Handyfoto. Clearview lieferte sofort den Namen des Mannes. Die Polizeidatenbank hatte dagegen keinen Treffer ausgespuckt. Die Polizei von Indiana wurde einer der ersten professionellen Kunden des Unternehmens, berichtet die Zeitung „New York Times“. Seitdem häufen sich aus ganz Amerika begeisterte Berichte von Polizisten, die Verdächtige innerhalb von Minuten anhand unscharfer Fotos identifizieren – darunter eben auch solche, von denen die Behörden kein offizielles Bild besitzen.
Eine Datenbrille zur sofortigen Identifikation aller Personen in Sichtweite liegt zwar noch in der Zukunft, der Zeitung zufolge ist so eine Funktion jedoch im Programmcode vorgesehen. Klar ist jedoch, dass Teleobjektiv-Aufnahmen und Einzelbilder von Überwachungsvideos von Bürgern jetzt schon reichen, um sie in Sekunden zu identifizieren.
Die offenbar richtige Annahme von Clearview war, dass es von fast allen Menschen Fotos im Netz gibt. Auf der Seite des Sportvereins, auf Facebook, beim Arbeitgeber, im Ebay-Profil – irgendwo. Die Programme des Unternehmens haben das Netz systematisch nach Fotos von Personen durchstöbert. Sie haben dabei Gesichtsdaten von drei Milliarden Fotos für die Erkennung aufbereitet. Es nützt nun nichts mehr, die eigenen Daten auf Facebook in den Einstellungen nachträglich unsichtbar zu machen. Das Unternehmen hat angekündigt, alle bereits gesammelten Daten behalten zu wollen.
Technisch war all das schon lange möglich. Google könnte eine Rückwärtssuche vom Gesicht zu den damit verbundenen Daten vermutlich über Nacht freischalten. Es ist schließlich alles vorhanden: ausgereifte Programme zur Gesichtserkennung ebenso wie eine Datenbank aller Fotos im Netz.
Doch die großen Internetfirmen sind bisher davor zurückgeschreckt, Dienste zur Gesichtssuche anzubieten. Die Auswirkungen auf die Datensicherheit reichen zu weit. Abgesehen von ethischen und gesellschaftlichen Bedenken kamen hier juristische Befürchtungen hinzu. Google-Chef Sundar Pichai hat in Brüssel sogar eine strengere Regulierung der Anwendungen künstlicher Intelligenz gefordert. FINN MAYER-KUCKUK