München – Politischer kann ein Wirtschaftsprojekt kaum sein: Seit mehreren Jahren arbeiten Europa und Russland an Nord Stream 2, einer Erdgas-Pipeline von der russischen Narwa-Bucht durch die Ostsee nach Deutschland.
Die erste Leitung ist seit 2011 in Betrieb. Aufgrund ihrer Auslastung werden nun zwei weitere Pipelines verlegt, bis auf den Startpunkt parallel zur Bestehenden. Doch aktuell ruhen die Arbeiten, die eigentlich Ende 2019 fertiggestellt werden sollten. Grund dafür sind US-Sanktionen, die kurz vor Weihnachten erlassen wurden. Sie richten sich an Firmen mit Schiffen, die Rohre tiefer als 30 Meter verlegen. Davon ist auch das Schweizer Unternehmen Allseas betroffen, das bisher das Verlegeschiff für Nord Stream 2 zur Verfügung stellte, um die Stahlrohre in über 50 Meter Tiefe abzulegen. Sie zogen ihr Schiff ab.
Nord-Stream-2-Geschäftsführer Matthias Warnig, früher DDR-Funktionär mit Spionagetätigkeit in der Bundesrepublik, bedauerte am Mittwoch bei einer Veranstaltung des Wirtschaftsbeirats Bayern, dass es keine Übergangsphase gegeben habe. Als Grund für den abrupten Eintritt der Sanktionen sieht Warnig den Zeitpunkt: 93 Prozent der insgesamt 2460 Kilometer langen Doppelpipeline seien bereits fertigstellt.
An beiden Linien würden insgesamt nur noch geschätzt 35 Arbeitstage fehlen. Offiziell sind die Sanktionen zum „Schutz von Europas Energiesicherheit“ in Kraft, um vor der Abhängigkeit von russischem Gas zu warnen. Die Bundesregierung kritisierte die Sanktionen in einer ersten Reaktion als „Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten“.
Nun werde nach Optionen für den Weiterbau gesucht. Insgesamt sind laut Warnig weltweit nur vier bis fünf Schiffe fähig, in solchen Tiefen zu verlegen. Mit allen Firmen sei man im Gespräch. Russland hatte erklärt, den Bau mit einem eigenen Spezialschiff fertigzustellen. Medienberichten zufolge nimmt dieses nun vom äußersten Osten Russlands Kurs Richtung Ostsee. Aber: „Es gibt kein russisches Verlegeschiff, das morgen die Arbeit in der Tiefe durchführen kann“, teilte Warnig mit.
Auf einen Fertigstellungstermin wollte er sich daher nicht festlegen. Putin stellte im Januar Anfang 2021 in Aussicht.
Aufgrund der Verzögerung entstünden Mehrkosten, die Warnig nicht näher beziffern wollte. Bisher ist der Bau mit acht Milliarden Euro veranschlagt, privat finanziert durch den russischen Gasmonopolisten Gazprom und fünf Finanzinvestoren wie Shell und OMV.
Europa vertritt hinsichtlicht Nord Stream 2 keine einheitliche Meinung. Polen etwa fürchtet die zu große Abhängigkeit von russischem Gas. Die Ukraine sorgt sich um sinkende Einnahmen bei Transitkosten, da bisher Erdgas über das Land nach Europa fließt. Nach langen Diskussionen unterzeichnete die Ukraine zwar einen Fünfjahresvertrag mit Russland, der weitere Fördermengen über die Transitroute garantiert. Dennoch sind diese Mindestmengen geringer als die bisherige Förderung.
Auch die USA haben ein Interesse daran, ihr flüssiges Fracking-Erdgas attraktiv zu halten. Klimaschützer wünschen sich hingegen den stärkeren Ausbau erneuerbarer Energien. Bundeskanzlerin Angela Merkel hält das Vorhaben indes weiter für richtig, wie sie Mitte Januar bei ihrem Treffen mit Putin sagte. CINDY BODEN