Frankfurt – Die Europäische Zentralbank (EZB) wird von vielen Bürgern skeptisch beäugt. Das liegt vor allem an den niedrigen Zinsen, aber auch daran, wie die neue Präsidentin Christine Lagarde glaubt, dass die Notenbank Sinn und Zweck ihrer Arbeit nicht verständlich erläutert, zu weit weg ist von den Bürgerinnen und Bürgern. Eine Informationsoffensive ist deshalb wichtiger Teil der Strategie-Überprüfung, die die EZB im Januar gestartet hat und die jetzt auf Touren kommt. Die Notenbank will dabei vor allem auch selbst erfahren, was die Menschen in den 19 Euro-Staaten umtreibt.
„Die EZB hört zu“ betiteln die europäischen Währungshüter eine ganze Reihe von Veranstaltungen in allen Eurostaaten, bei denen Vertreter und Organisationen der Zivilgesellschaft – von Verbraucherverbänden, Gewerkschaften, Arbeitgeber-Organisationen, Studentinnen und Studenten, Vertretern der Kirchen und anderen gesellschaftlichen Gruppen – angehört und mit ihnen diskutiert werden soll.
Auftakt ist am 26. März in Brüssel mit Lagarde und EZB-Chef-Ökonom Philip Lane. Die Debatte wird live im Internet übertragen. Veranstaltungen der nationalen Notenbanken, also auch der Bundesbank, sollen in den Wochen danach folgen. „Wir möchten zuhören und für die Meinungen, Erwartungen und Anliegen der Bürgerinnen und Bürger offen sein. Teilen Sie uns Ihre Ideen mit“, sagt Lagarde. „Alle Ideen und Standpunkte fließen in die Strategieüberprüfung ein.“ Eigens dafür hat die Notenbank unter dem Motto „Die EZB hört zu“ ein Portal im Internet eingerichtet.
Besonders stark für diesen Ansatz macht sich auch die seit Jahresanfang amtierende deutsche EZB-Direktorin Isabel Schnabel. Sie will für mehr Verständnis in der Bevölkerung werben und Missverständnisse ausräumen. „Wenn die Menschen immer wieder hören, dass die EZB ihnen mit ihrer Politik schadet, ist das irreführend und gefährdet das Vertrauen.“ Auch Lagarde stellt gegenüber den Menschen in der Eurozone klar: „Preisstabilität hilft ihnen in vielen Bereichen des Lebens, beim Sparen, bei Kreditverträgen und beim Investieren.“ Es geht der EZB insgesamt um eine einfachere, verständlichere Sprache, mit der sie ihre Politik erläutern will.
Die gesamte Strategieüberprüfung – die erste seit 17 Jahren – wird ein umfangreicher Prozess, der elf Themenfelder umfassen und bis Jahresende abgeschlossen sein soll. Neben der Kommunikation geht es unter anderem um den Klimawandel, die Globalisierung, die Digitalisierung, um Produktivität und technischen Fortschritt und deren Auswirkungen auf die Geldpolitik. Auch die Instrumente der Geldpolitik sollen auf den Prüfstand gestellt werden. „Jeder Stein wird umgedreht“, hatte Lagarde schon im Dezember wenige Wochen nach ihrem Amtsantritt gesagt.
Als ein schwieriges Feld dürfte sich dabei die Frage der Messung von Inflation und Preisstabilität erweisen. Die Wahrung der Preisstabilität ist die Hauptaufgabe der Notenbank. Dabei wird der Faktor Wohnen derzeit zu wenig berücksichtigt, auch nach Ansicht von Bundesbank-Präsident Jens Weidmann. In den europäischen Verbraucherpreisindex HVPI fließt Wohnen zur Miete nur bedingt mit einem Anteil von 6,5 Prozent ein. „Der Index enthält auch Mieten. Viele Menschen leben aber in ihren eigenen Wohnungen oder Häusern. Das selbst genutzte Wohneigentum jedoch fehlt im Warenkorb“, weist Weidmann auf einen problematischen Punkt hin. Würde dies berücksichtigt, hätte die Inflationsrate in der Vergangenheit um etwa 0,2 Prozentpunkte höher gelegen, sagt der Bundesbank-Präsident. Ökonomen sprechen sogar von bis zu 0,5 Punkten. Das hätte möglicherweise Auswirkungen auf geldpolitische Entscheidungen der EZB. Weidmann wünscht sich, dass die Notenbank „näher an die Lebenswirklichkeit der Menschen“ heranrückt. ROLF OBERTREIS