Corona: „Wie harter Brexit“

von Redaktion

INTERVIEW über die Anfälligkeit von Lieferketten

Marco Motta vom Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik in Dortmund erklärt, wie die Covid-19-Epidemie globale Handelsströme stört.

Wie stark kann das neue Coronavirus die Unternehmen an ihren empfindlichen Lieferketten treffen?

Wirtschaftlich kann und wird das Coronavirus in den kommenden Wochen noch spürbare Auswirkungen auf europäische Unternehmen haben. Die Wertschöpfung erfolgt heute arbeitsteilig. Das fängt beispielsweise bei weißer Ware, also Haushaltsgeräten, an und geht bis hin zu Autos. Grundsätzlich gilt: Je komplexer ein Produkt, desto komplexer ist die Lieferkette.

Wie sehen solche Lieferketten heute aus?

Die Lieferketten sind global. Über mehrere Stufen werden aus den Rohstoffen die finalen Produkte erzeugt. Gerade bei Überseelieferanten muss die logistische Vorlaufzeit berücksichtigt werden. Zwar werden variantenreiche und sehr teure und leichte Gegenstände wie beispielsweise Navigationsgeräte oft geflogen, aber das ist nur ein Teil der ausgetauschten Leistungen.

Und die großen Teile?

Gewicht ist der größte Kostentreiber der Luftfracht. Daher werden solche Teile aus Übersee meist per Schiff transportiert. Das bedeutet auch: Wir haben einen straßen- oder schienengebundenen Vorlauf vom Lieferanten bis zum Hafen, dann folgen der Umschlag am Hafen und die Verladung auf das Schiff. Containerschiffe laufen sukzessive mehrere Häfen an, bis die Ladung an einem europäischen Seehafen wie beispielsweise Hamburg oder Rotterdam gelöscht wird. Bis die Teile beim Unternehmen ankommen, vergehen etwa zwei Monate.

Wie trifft das neue Coronavirus die Lieferkette?

Bei den Schiffslieferungen erhalten wir heute in Europa gerade noch die Produkte, die vor dem Ausbruch der Epidemie in China versendet wurden. Deshalb sind die Auswirkungen bisher noch nicht so stark spürbar. Das ist wie eine Pipeline, die kontinuierlich befüllt werden muss. Durch den Ausbruch des Coronavirus haben wir jetzt eine Delle in der Pipeline – nur ist die in Europa noch gar nicht angekommen, sondern wird aufgrund der langen Transportzeit erst in den kommenden Wochen spürbar sein.

Können die Firmen darauf reagieren und auf die teure Luftfracht ausweichen?

Das ist schwer vorstellbar. Zwar werden schon heute in Notfällen Teile, auch schwere wie beispielsweise Getriebe, per Flugzeug transportiert, aber wenn es den Zulieferern in China in den kommenden Wochen nicht gelingt, ihre Produktion wieder hochzufahren, bringen auch die Flugzeuge nichts. Wenn die Epidemie in China noch länger andauert, kann das in der verarbeitenden Industrie in Europa noch zu kräftigen Verwirbelungen führen.

Betroffen ist nicht mehr nur China, betroffen sind auch Teile Norditaliens.

Das führt zu einem weiteren Problem: Bleiben wir beim Beispiel Auto. In einem Fahrzeug sind heute zwischen 9000 und 10 000 Einzelteile von unterschiedlichen Zulieferern verbaut. Neben den langen interkontinentalen Lieferketten gibt es natürlich viele Lieferanten im Inland und im europäischen Ausland. Teile wie Himmel oder Kabelbäume werden oft im Umkreis weniger als 100 Kilometer von den Herstellerstandorten just in time produziert. Andere Teile wie Sitze werden sogar just in sequence in einem Lieferantenpark in unmittelbarer Herstellernähe produziert. Um im Bild zu bleiben: Diese Pipelines sind kurz. Für eine Just-in-time-Belieferung fahren pro Schicht oft mehrere Lkw vom Lieferanten zum Automobilwerk. Werden jetzt die Grenzen geschlossen, wie es im Fall von Italien in der Diskussion war, führt das unmittelbar zu einem Produktionsstillstand. Kommt es zu dem Fall, dass ein Nachbarland die Grenzen zu Deutschland schließt oder umgekehrt, würde sich das Coronavirus auswirken wie ein harter Brexit.

Interview: Sebastian Hölzle

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