„Beim Neustart der Wirtschaft Gas geben“

von Redaktion

INTERVIEW MAN-Chef Joachim Drees über das Wiederanlaufen des Münchner Lkw-Werks

Sechs Wochen lang stand die Produktion im MAN-Nutzfahrzeugwerk im Münchner Nordwesten still. Heute fährt Münchens zweitgrößter industrieller Arbeitgeber die Produktion wieder hoch. Vieles ist kaum mehr wiederzuerkennen: Getrennte Wege ins und aus dem Werk sowie Einbahnregelungen für die Beschäftigten. Über die Herausforderungen, vor denen das Unternehmen jetzt steht, sprachen wir mit MAN- Chef Joachim Drees.

Sie fahren die Produktion wieder hoch. Wie bringt man ein so kompliziertes Gefüge wieder in Gang?

Schon während die Werke heruntergefahren wurden, haben wir uns überlegt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um sie wieder hochzufahren – und wie das geschehen kann. Das haben wir sehr frühzeitig über alle Strukturen hinweg vorbereitet. Die Sicherheit und Gesundheit der Mitarbeiter ist dabei das Wichtigste. Und wir haben es so umgesetzt, dass es in unserem Produktionsumfeld auch funktionieren kann.

Warum wurde alles heruntergefahren?

Die Lieferketten fingen durch die Corona-Krise und die damit verbundenen staatlichen Maßnahmen an, brüchig zu werden. Wir können Trucks ja nicht zu 95 Prozent fertig bauen und sie dann im Hof stehenlassen.

Wie lange dauert es, bis Sie wieder 100 Prozent erreicht haben?

Die Produktion läuft erst einmal mit 60 Prozent an. Wir haben die Taktzeit verlangsamt, um die Sicherheit der Belegschaft zu gewährleisten und damit für genügend Abstand zwischen den Mitarbeitern zu sorgen. Wann wir wieder ein Niveau wie vor der Corona-Krise erreichen, hängt natürlich in erster Linie von der Nachfrage, aber auch von dem weiteren Verlauf der Pandemie und den damit verbunden staatlichen Maßnahmen ab.

Wie entwickelt sich die Nachfrage?

Wir haben ein gut gefülltes Orderbuch, aber wir müssen aufgrund der nach wie vor unsicheren Situation weiter auf Sicht fahren. Unsere Kunden schauen sich aktuell genau an, was sie derzeit wirklich benötigen. Das ist von Branche zu Branche unterschiedlich: Die Lebensmittelbranche braucht Fahrzeuge. Auch die Nachfrage nach Verteilfahrzeugen ist stabil. Bei Sattelzugmaschinen sehen wir ein geringeres Bestellvolumen. Bereits der Januar und der Februar waren schwächer als im Vorjahr. Dann hatten wir bei steigenden Auftragseingängen das Gefühl, das Jahr würde nicht ganz so schlecht werden. Aber es kam ganz anders.

Die Pkw-Hersteller wünschen sich Kaufprämien. Wie sieht es bei Ihnen aus?

Unsere größte Herausforderung ist eine ganz andere: die vielen, aufgrund der Krise frühzeitig zurückgegebenen jungen Gebrauchtfahrzeuge. Sie verstopfen den Neufahrzeugmarkt. Was uns wirklich helfen würde, wäre eine europaweite Prämie für umweltfreundliche neue und gebrauchte Euro-6-Fahrzeuge, wenn diese für alte Fahrzeuge der Euronormen III bis V. ersetzt würden. Das könnte den Markt in Schwung bringen und insbesondere unseren Kunden massiv helfen. In Europa beträgt das Durchschnittsalter eines Lkw derzeit über zwölf Jahre. Das könnten wir mit einem solchen Investitionsprogramm nun auf einen Schlag verjüngen – auch im Sinne der Umwelt.

Warum läuft es derzeit so zäh?

2008 und 2009 waren der Finanz- und der Immobiliensektor Auslöser der Krise. Da konnte man den Markt durch Liquidität wieder in Gang bringen. Die Verunsicherung heute ist um ein Vielfaches höher. Wir produzieren Investitionsgüter. Unternehmen senken die Investitionen, um ihre liquiden Mittel zu schonen. Das zieht sich weiter durch die ganze Industrie. Dieser Prozess hat erst begonnen.

Hilft ihnen die Kurzarbeit in der Krise über die Runden zu kommen?

Das ist sicherlich ein gutes Werkzeug. Aber in München ist es kaum möglich, mit 60 oder 67 Prozent seines Gehalts auszukommen. Wir stocken deshalb auf 90 Prozent auf. Das sind Liquiditätsabflüsse, die wir trotz Krise stemmen müssen.

Sie haben bereits einen Personalabbau geplant. Müssen Sie den möglicherweise verschärfen?

Wir werden weiter an der Transformation des Unternehmens arbeiten, um es auf die Zukunft auszurichten. Die Situation ist jetzt nicht einfacher geworden. Aber erst einmal geht es darum, die Produktion wieder hochzufahren und dabei die Gesundheit der Mitarbeiter zu gewährleisten.

Man sieht überall bei Ihnen im Werk Hinweise, was man jetzt tun soll und was nicht…

Ja, an den Wegen, Treppen und Aufzügen sind überall deutlich sichtbar Hinweistafeln für den Gesundheitsschutz angebracht. Die Mitarbeiter sollen zu ihrer eigenen Sicherheit die Mindestabstände einhalten. Auch auf dem Weg ins Werk und in den Pausenzonen. Wo früher sechs Mitarbeiter an einem Tisch saßen, dürfen jetzt nur noch zwei Platz nehmen. Wir haben das strukturiert vorbereitet. Zuerst haben wir die Vorgesetzten geschult, dann das ganze Team. Die Kollegen denken dabei richtig gut mit und bringen hervorragende eigene Ideen ein. Da bin ich sehr stolz auf unsere Mannschaft.

Viele tragen Masken. Erschwert das nicht die Kommunikation in den Werkshallen?

Man muss deutlicher sprechen, bei Diskussionen oder Anweisungen klarer sein. Vieles ist neu, vieles ist anders. Das erfordert Übung. Aber unsere Mitarbeiter lernen auch das unglaublich schnell und ziehen richtig gut mit.

Viele haben Kinder und damit weiterhin einen Betreuungsbedarf. Wie gehen Sie damit um?

Wir versuchen das individuell zu gestalten. Im Verwaltungsbereich kann man noch viel im Homeoffice arbeiten. Und wir müssen auch noch weiter in Kurzarbeit bleiben. Auf Risikogruppen achten wir dabei besonders. Denen sagen wir: Bleibt bitte, wenn möglich, zu Hause.

Gab es auch Bereiche, in denen der Betrieb ganz normal weiterlief?

Was immer gut funktioniert hat, war die für unsere Kunden kritische Teileversorgung und der Service. Da hat unsere Mannschaft einen unglaublich guten Job gemacht! Die Kollegen waren immer für unsere Kunden da. Sie sind auch auf die Autohöfe gegangen und haben Fahrer, die mit leeren Händen dastanden, mit Essen versorgt. In der Krise zeigt sich einmal mehr, wie wichtig die ganze Transportbranche für Gesellschaft und Wirtschaft ist. Für meinen Geschmack wird darüber zu wenig gesprochen.

Gibt es auch Lerneffekte in der Krise, etwa bei Homeoffice oder Konferenzen?

Ja. Viele Dinge kann man gut über Videokonferenzen machen. Bei operativen Entscheidungen geht das gut. Ich habe auch bemerkt, dass Videokonferenzen disziplinierter ablaufen und mit mehr Klarheit. Da werden wir sicher einiges beibehalten. Wenn es um Strategie geht, Ideenfindung oder kreative Prozesse, wird es schwieriger. Aber ich glaube, dass künftig weniger gereist werden muss. Das ist einer der Erkenntnisgewinne, den wir aus der Krise mitnehmen werden.

Ein Problem waren zusammengebrochene Lieferketten. Werden Sie da etwas ändern?

Die Prozesse haben lange Zeit relativ gut funktioniert – selbst bei Lieferungen aus Italien oder Spanien, also aus Ländern, die sehr viel stärker von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind. Unsere bisherige Logistik kann in ähnlicher Art und Weise sicher bestehen bleiben, sie hat sich über Jahre bewährt. Vielleicht muss man an der einen oder anderen Stelle aber wieder einen etwas größeren Puffer einbauen. Wir werden uns das genau anschauen, wenn das Gröbste überstanden ist.

Die Politik musste auch lernen. Ist das auch alles gut gelaufen, oder kann man da etwas verbessern?

Hier möchte ich ein Lob aussprechen: Die Politik hat – gerade auch in Bayern – schnell und konsequent reagiert. Bei den Vorsichtsmaßnahmen, aber auch damit, dass man der Wirtschaft umfangreiche Liquiditätshilfen zur Verfügung gestellt hat. So hat man vielen Unternehmen erst mal das Überleben gesichert. Jetzt muss aber der nächste Schritt kommen: Wir müssen aus der Krise wieder rauskommen. Konjunkturprogramme auf breiter Basis, besonders für die am härtesten getroffenen Branchen, sind notwendig. Es gilt, Vertrauen zurückzugewinnen. Ich wünsche mir, dass beim Neustart der Wirtschaft Gas gegeben wird. Und zwar auch mit Impulsen auf europäischer Ebene.

Die Verwerfungen sind vielseitiger und tiefer als bei früheren Krisen. Das haben anfangs viele nicht geglaubt. Ist diese Botschaft aus Ihrer Sicht inzwischen angekommen?

Die Politik erkennt das. Nur eines darf aus meiner Sicht nicht passieren: Dass jetzt zu lange gezögert wird. Denn wenn das Vertrauen nicht zurückkommt, kommt auch kein Konsum zurück und keine Investitionstätigkeit. Dann wird das Problem nachhaltig.

Die Fahrer von Trucks sind systemrelevant. Man hat sie aber oft allein gelassen: Vor geschlossenen Grenzen, geschlossenen Sanitäranlagen, geschlossenen Raststätten. Kann die Industrie etwas tun, um ihnen das Leben leichter zu machen?

Mit unserer neuen Fahrzeuggeneration, die gerade in den Startlöchern steht, haben wir einiges schon vorweggenommen: Mehr Nutzen für die Fahrer, Erleichterung ihrer Arbeit, bequemere Wohnmöglichkeit im Fahrerhaus. Bei MAN stand der Fahrer schon immer im Mittelpunkt. Aber auch in der Gesellschaft ändert sich langsam etwas: In der Vergangenheit rangierten Lkw und ihre Fahrer im Ansehen zu Unrecht weit unten. Ich glaube, dass wir da jetzt eine andere Form von Wertschätzung haben. Lkw-Fahrer sind die Menschen, die dafür sorgen, dass wir jeden Tag etwas zu essen haben, dass wir produzieren können, dass es – was ja offenbar besonders wichtig ist – wieder Toilettenpapier gibt und vor allem: dass wichtige medizinische Güter transportiert werden.

Interview: Martin Prem

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