München – Wenige Monate vor seinem Abschied an der Siemens-Spitze ist Vorstandschef Joe Kaeser noch einmal gefordert: Wegen der Corona-Krise sind Kunden nervös, sie halten sich mit Aufträgen zurück, zudem sind viele Lieferketten gestört – und das mitten im größten Umbau der Konzerngeschichte.
Bei der gestrigen Vorstellung der Geschäftszahlen für das zweite Quartal (Januar bis März) zeigte sich Kaeser dennoch zuversichtlich, dass Siemens halbwegs glimpflich durch die Krise kommen wird. Mehr noch: Siemens könnte langfristig sogar von der Krise profitieren, glaubt der Siemens-Chef.
Dabei sprechen die Zahlen auf den ersten Blick eine andere Sprache: Zwischen Januar und März ist der Konzerngewinn verglichen mit dem Vorjahreszeitraum um 64 Prozent auf 697 Millionen Euro eingebrochen. Auch der Umsatz schwächelt. Mit 14,2 Milliarden Euro schrumpfte er um ein Prozent. „Vieler unserer Schlüsselmärkte und Schlüsselindustrien sind stark getroffen“, sagte Kaeser mit Bezug auf die Automobil- und Luftfahrtindustrie sowie den Maschinenbau. „Daher erwarten wir erst im dritten Quartal eine volle Wirkung des Shutdowns und eine Bodenbildung.“ Mit Bodenbildung meint Kaeser, dass zwischen Mai und Juli für Siemens der Tiefpunkt der Krise erreicht sein wird.
Unwahrscheinlich ist aber, dass es bereits im Herbst wieder steil nach oben geht. „Wie lange die Bodenbildung sein wird, wissen wir nicht so genau“, warnte der Siemens-Chef. Er gehe davon aus, dass dieser Prozess länger dauern wird. Wegen der Unsicherheit hat Siemens seine Gewinnprognose für das Geschäftsjahr 2020, das Ende September endet, gestrichen.
Offenbar verfügt der Konzern aber über ausreichend flüssige Mittel, um die Talfahrt zu überbrücken. Mit einer Nettoliquidität von 11,4 Milliarden Euro befinde sich Siemens in einer „sehr komfortablen Situation“, sagte Finanzvorstand Ralf Thomas.
Auch am ehrgeizigen Zeitplan, die schwächelnde Kraftwerkssparte unter dem Namen Siemens Energy in die Selbstständigkeit zu entlassen, hält Kaeser fest. Wie geplant, solle eine außerordentliche Hauptversammlung am 9. Juli über den Schritt entscheiden. Im Herbst ist der Börsengang geplant. Die Ausgliederung wäre damit Teil einer der größten Umbaumaßnahmen in der über 170-jährigen Firmengeschichte.
Dass Kaeser derart zuversichtlich ist, Siemens in ruhigen Fahrwassern durch die Corona-Krise zu steuern, hat seine Gründe. Automobil, Luftfahrt und Maschinenbau sind nur ein Teil des weitverzweigten Siemens-Universums. Der Konzern verfügt über Standbeine wie Siemens Healthineers, das Kaeser bereits an die Börse gebracht hat. Zwar brechen auch bei Siemens Healthineers aktuell bestimmte Absatzmärkte weg (wir berichteten), Produkte rund um die Lungendiagnostik sind dafür aber gefragt wie nie, Medizintechnik boomt. Auch sieht der Vorstand die Sparte Digital Industries als einen Krisengewinner, falls Unternehmen jetzt anfangen, ihre anfälligen Lieferketten neu zu organisieren. Kaesers Nachfolger Roland Busch sagte, dank Digitalisierung und Automatisierung könne künftig wieder mehr in Hochlohnländern produziert werden. Für Siemens wäre das ein lukratives Geschäft. Entsprechend selbstbewusst sagte der künftige Siemens-Chef: „Die Corona-Krise bietet für uns große Chancen.“