EU prüft Verfahren gegen Deutschland

von Redaktion

Mit ihrer Entscheidung zu den Anleihenkäufen der EZB haben sich die Bundesverfassungsrichter gegen das höchste EU-Gericht gestellt. Die polnische Regierung jubelt, Experten warnen vor verheerenden Folgen. Beschädigt das Urteil die europäische Staatengemeinschaft?

VON ANJA SEMMELROCH UND MICHEL WINDE

Karlsruhe/Brüssel – Ein fatales Signal nennt es die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley. Der Europarechtler Franz Mayer spricht von einer „Atombombe“, die das Bundesverfassungsgericht gezündet habe. Mit ihrem Urteil zu den milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) haben sich die Karlsruher Richter zum ersten Mal über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hinweggesetzt – und damit Schockwellen in Europa ausgesendet. Bröckelt nun die Autorität des höchsten EU-Gerichts – in einer Zeit, in der die Europäische Union ohnehin zunehmend mit Nationalismus zu kämpfen hat? EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist alarmiert.

Die deutschen Richter dürften das Beben vorhergesehen haben. Das Urteil könne „auf den ersten Blick irritierend wirken“, schickt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am 5. Mai der Verkündung voraus. Dem Senat sei bewusst, „dass Entscheidungen des EuGH nur in absoluten Ausnahmefällen die Gefolgschaft versagt bleiben darf“.

Der Konflikt liegt in der Natur der Sache: Auf der einen Seite das mächtige Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das über die deutschen Grundrechte wacht. Auf der anderen Seite das oberste EU-Gericht in Luxemburg, das die europäischen Verträge auslegt. Was, wenn das zu Widersprüchen führt?

In der Tendenz hat sich Karlsruhe seit den 1970er-Jahren mehr und mehr zurückgenommen. Mit zwei Ausnahmen: Die Richter behalten sich vor, einzugreifen, wenn sie den innersten Kern des Grundgesetzes verletzt sehen. Und wenn ein EU-Organ sich Kompetenzen herausnimmt, die ihm der Bundestag als Vertretung der Wähler nie übertragen hat. Den zweiten Punkt stellt die EZB mit ihrem umstrittenen Anti-Krisen-Kurs seit Jahren hart auf die Probe – und der EuGH erteilte dem Kaufprogramm recht pauschal seinen Segen.

Dass sich die deutschen Richter das nicht bieten lassen würden, war absehbar. Sie bezeichneten das EuGH-Urteil als „willkürlich“ und entscheiden, dass die Notenbank ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt habe – ein beispielloser Vorgang.

Die EuGH-Richter lassen sich mit einer inhaltlichen Reaktion mehrere Tage Zeit. Am Freitag werden sie dann aber ungewöhnlich deutlich. Grundsätzlich gelte zwar: „Die Dienststellen des Gerichtshofs kommentieren Urteile nationaler Gerichte nicht.“ „Ganz generell“ stellt der EuGH aber klar, dass derlei Urteile das Justizsystem der EU gefährdeten. Dass die Handlung eines EU-Organs – in diesem Fall die EZB – gegen EU-Recht verstoße, dürfe nur der EuGH feststellen. Andernfalls seien die Einheit des EU-Rechts und die Rechtssicherheit in Gefahr.

Für den Europarechtler Mayer ist der Schaden längst angerichtet. „In Polen knallen die Korken.“ Dort baut die nationalkonservative PiS-Regierung das Justizwesen seit Jahren um. Der EuGH schritt mehrfach ein. Durch das deutsche Urteil fühle die PiS sich natürlich bestätigt, sagt Mayer. „Die können ihr Glück kaum fassen.“ Die Regierung werde künftig auf das Bundesverfassungsgericht verweisen und behaupten, EuGH-Urteile seien nicht bindend.

Tatsächlich wird das Urteil in Warschau fast euphorisch aufgenommen. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki schreibt in der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ von einem „der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union“. Es sei vielleicht jetzt zum ersten Mal in dieser Klarheit gesagt worden: „Die Verträge werden von den Mitgliedstaaten geschaffen und sie bestimmen, wo für die Organe der EU die Kompetenzgrenzen liegen.“

Was also, wenn Polen, Ungarn oder andere Staaten sich ein Beispiel nehmen und EuGH-Urteilen künftig nicht mehr folgen? EVP-Fraktionschef Manfred Weber warnt dringend davor. Und auch für Europarechtler Mayer würde das am Kern der Staatengemeinschaft kratzen. Das gemeinsame Recht sei für den Zusammenhalt der EU entscheidend. Die EU-Kommission müsse ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten – wegen der Nicht-Befolgung des EuGH-Urteils und vielleicht auch wegen der Verletzung der Unabhängigkeit der EZB. Ist das tatsächlich denkbar?

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gibt sich entschlossen. „Ich nehme diese Sache sehr ernst.“ Der Richterspruch werfe Fragen auf, die den Kern der europäischen Souveränität berührten. Die Kommission analysiere das Urteil und prüfe auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland.

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