Schlüsselbranche im doppelten Umbruch

von Redaktion

Die Autoindustrie steckt im größten Wandel seit Jahrzehnten, obendrein nun der Corona-Neustart. Neben der Krise stellen sich Grundsatzfragen zur Zukunft des Gewerbes -und für den Arbeitsalltag Hunderttausender Menschen.

VON JAN PETERMANN

München/Wolfsburg – Die „neue Normalität“ nimmt in der größten Fabrik der Welt langsam Gestalt an. Doch kann man das alles überhaupt „normal“ nennen? Das VW-Stammwerk in Wolfsburg ist wieder am Netz – und vieles ist nicht mehr so wie vorher. Überall auf dem riesigen Gelände am Mittellandkanal mahnen Plakate zu Vorsicht im Corona-Neustart. Die Grundstimmung: angespannter Optimismus. Ziel: aufholen, zurück zum Leben vor dem Shutdown.

Doch die Autowelt könnte bald eine andere sein. In Teilen ist sie es schon. Ökonomen rechnen mit einer tiefen Rezession in Deutschland. Verbraucher scheuen die Ausgaben für größere Anschaffungen. Selbst wenn sie es sich eigentlich leisten könnten, wie Umfragen zeigen. Und über der zwangsweisen Entschleunigung schwebt die Frage, ob nicht der Moment für ein prinzipielles Umlenken da ist.

Das Problem nur: Die CO2-Regeln sollen verschärft werden, während nun erst einmal das Massengeschäft zurückkehren muss. Wie kann das gehen? Einzig mit einem entschlossenen Jetzt-erst-recht glauben Befürworter einer raschen Öko-Wende wie der Greenpeace-Verkehrsexperte Benjamin Gehrs. Die Not strikterer Emissionsvorgaben müssten die Anbieter jetzt zur Tugend machen, findet er.

Derweil versucht die VW-Belegschaft, mit der neuen Realität klarzukommen. Sorgfältig übt man an der Geburtsstätte von Golf und Tiguan das Leben nach Corona ein. Die Fertigung läuft im Sparmodus. Andere Taktzeiten, entzerrte Schichtpläne, weniger Menschen je Fläche. Getrennte Pausen, markierte Laufwege. Spuckschutz in der Motormontage, Plastikplanen zwischen den Stationen. So sieht die Arbeitswelt in den Hallen aus.

Doch das läuft nicht nur bei VW. Wo produziert wird, ist Distanz nicht immer machbar. Also müssen Mitarbeiter strenger geschützt werden. Bei Daimler, BMW Opel und VW und auch bie der Tochter Audi, in deren Ingolstädter Stammwerk gestern auf einer von drei Montagelinin erstmals wieder im Drei-Schicht-Betrieb Autos der Modellreihen A3 und Q2 gebaut wurden.

Fast alle sind froh, weitermachen zu können. Schließlich waren allein in den deutschen VW-Werken 80 000 Menschen in Kurzarbeit, und etliche sind es noch. VWMarkenchef Ralf Brandstätter ist überzeugt: „Produktionsanlauf und höchste Standards beim Gesundheitsschutz sind miteinander vereinbar. Wir wollen schrittweise wieder zu stabilen Verhältnissen kommen.“

Auf der anderen Seite sind die Verhältnisse aber alles andere als stabil. Im April stürzten die Auto-Neuzulassungen in Deutschland im Vorjahresvergleich um 61 Prozent ab. „Gegenüber dem Vorjahr haben wir 67 Prozent Volumen in Deutschland verloren“, sagte VW-Vertriebschef Jürgen Stackmann gestern. In Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien seien 99 Prozent des Absatzes weggebrochen. Zahlen der anderen Hersteller stehen noch aus. Doch es spricht nichts dafür, dass es bei ihnen grundlegend anders läuft. BMW oder Daimler haben angekündigt, ihre Investitionen zu straffen und mussten Prognosen über den Haufen werfen

Die Pandemie wird damit die Autobranche kräftig erschüttern. Aber sie könnte auch ein heilsamer Schock sein, um viele Dinge künftig anders zu tun. Die Fahrzeughersteller wissen seit Langem, dass das jahrzehntealte Modell steten Wachstums mit konventioneller Technik keinen Bestand haben kann. Zu elektrischen Antrieben kommen Digitalisierung und Vernetzung. Corona könnte als Beschleuniger des nötigen Umbaus wirken.

Doch manches soll auch bleiben, wie es immer war. . „Deutschland ist ein Autoland“, sagt VW-Chef Herbert Diess. „Sobald wieder Autos gekauft werden, kommt die Wirtschaft zurück.“ Und das Auto könnte – allen Krisenszenarien und kritischen Stimmen zum Trotz – ein Revival erleben. Angst vor Ansteckung in Bus und Bahn, der Boom der Lieferdienste: Solche Faktoren dürften den Individualverkehr womöglich zusätzlich beleben, ermittelte das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt.

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