München – Ein Börsengang in Pandemiezeiten – das erfordert Mut. Aber der scheidende Siemens-Chef Joe Kaeser kennt keine Furcht. Diesen Corona-Herbst ist es so weit. Der Konzern trennt sich von 55 Prozent und damit der Mehrheit seiner Energietochter Siemens Energy. Dieser Anteil wird bestehenden Siemens-Aktionären als Sachdividende ins Depot gebucht. Je zwei Siemens-Anteile bringen je ein Papier des Sanierungsfalls Siemens Energy. Das wurde in einem Spaltungsbericht jetzt so verfügt.
Kaeser sieht Wertsteigerungspotenziale für beide Siemens-Konzerne. „Siemens Energy ist nicht nur operativ und strategisch, sondern auch finanziell hervorragend aufgestellt“, findet Siemens-Finanzchef Ralf Thomas. Letzteres ist unumstritten. Als Mitgift gibt Siemens seinen Energieaktivitäten gut 17 Milliarden Euro Eigenkapital, über zwei Milliarden Euro Nettoliquidität und eine Kreditlinie über weitere drei Milliarden Euro auf den Weg. Zugleich wird Siemens Energy mit einer stolzen Eigenkapitalquote von fast 38 Prozent schuldenfrei gestellt. Mutter Siemens kommt zum Vergleich nur auf knapp 31 Prozent Eigenkapitalquote.
Zugleich weist ein solches Finanzpolster auf großen Gegenwind, den die Manager für den Börsenneuling erwarten. Als Weltmarktführer bei Energieerzeugung und -verteilung ist das Unternehmen fraglos ein Riese, aber einer, der auf wackligen Beinen steht. Im über 300 Seiten dicken Spaltungsbericht werden für Siemens Energy in einer Proforma-Rechnung für vergangenes Geschäftsjahr 2019/20 (zum 30. September) 29 Milliarden Euro Umsatz und 91 000 Beschäftigte bei mageren 282 Millionen Euro Jahresüberschuss genannt. Das war noch vor Corona. Zum Halbjahr 2020/21 weist Siemens für nicht fortgeführte Aktivitäten, unter denen das Energiegeschäft nun geführt wird, über 300 Millionen Euro Verlust aus. Das dürfte bis Geschäftsjahresende noch mehr werden. Auch ohne Pandemie hat der Börsenkandidat Probleme. 70 Prozent aller Geschäfte entfallen auf fossile Energien und damit ein Auslaufmodell. Die restlichen 30 Prozent sind Windenergiegeschäfte um die mit Siemens Energy verbandelte Siemens Gamesa, die aber zuletzt auch Verluste produziert hat. Dazu kommt die Corona-Krise. Der profitabelste Teil von Siemens Energy ist das Servicegeschäft. Das liegt aber derzeit in weiten Teilen brach, weil Techniker wegen der Pandemie vielfach keinen Zugang zu Kraftwerken bekommen.
Siemens Energy-Chef Christian Bruch verweist auf global steigenden Energiehunger und das breite Portfolio seines Konzerns. Der 50-Jährige ist erst seit Anfang Mai an Bord, weil der bereits eingearbeitete und eigentlich als Firmenchef vorgesehene Michael Sen kurzfristig vor die Tür gesetzt wurde. Bruch wurde von Linde abgeworben und gilt als Manager aus der zweiten Reihe. Nun muss er in Corona-Zeiten den Sanierungsfall Siemens Energy managen, wo bereits ein Stellenabbau läuft. Ihm zur Seite steht Kaeser als Aufsichtsratschef. Seinen Posten als Siemens-Chef tritt dieser spätestens im Februar an Roland Busch ab. Aufseher des Siemens-Energiekonzerns wird auch der einstige SPD-Chef Sigmar Gabriel, der diese Funktion zudem bei der Deutschen Bank anstrebt.
Bruch kann jede Hilfe brauchen, zumal Siemens beim ungeliebten Konzernteil auf Distanz geht. Den zum geplanten Börsenstart Ende September verbleibenden Aktienanteil an Siemens Energy von 35 Prozent will die scheidende Mutter binnen eineinhalb Jahren spürbar reduzieren. Auch die zehn Prozent, die ferner beim Siemens-Pensionsfonds bleiben, sind nicht in Stein gemeißelt. Dazu kommt ein Vertrag, der Siemens Energy unabhängig von Siemens macht – im Guten wie im Schlechten. Nötiges Geld muss sich der Energiekonzern künftig in Eigenregie am Kapitalmarkt besorgen.
Verbunden bleiben beide Konzerne über den Namen Siemens. Um den zu nutzen, muss der Energiekonzern jährlich vorerst rund 50 Millionen Euro an das auf Digitalgeschäfte reduzierte neue Siemens zahlen. Eine weitere Milliarde Euro bekommt die scheidende Mutter für Dienstleistungen in Bereichen wie IT oder Personal. Letzte formale Hürde für den Börsengang in Corona-Zeiten, der eine Zweiteilung von Siemens bedeutet, ist eine außerordentliche Online-Hauptversammlung Anfang Juli. Noch offen ist der Firmensitz von Siemens Energy. Ungenannt bleibt im Spaltungsbericht auch der Firmenwert. Den wird die Börse Ende September festlegen. Er droht, überschaubar auszufallen.