„Es darf keinen zweiten Lockdown geben“

von Redaktion

INTERVIEW ifo-Präsident Clemens Fuest über Konjunktur, Schulden und Autoprämien

Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer beispiellosen Rezession. Die Corona-Pandemie hat ganze Geschäftszweige über Nacht zum Erliegen gebracht. Wir sprachen mit dem Präsidenten des Münchner ifo-Instituts, Clemens Fuest, über die langfristigen wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie.

Der von Ihrem Institut ermittelte ifo-Index zieht wieder an, die Börsen erholen sich allmählich. Ist das wirtschaftliche Tief nach dem Corona-Einbruch überstanden?

Da muss man sehr vorsichtig sein. Überstanden ist in den meisten Ländern der ganz starke Lockdown. Das ist auch die Erklärung dafür, warum wir bei den Unternehmen jetzt eine leichte Stimmungsverbesserung beobachten. Der ifo-Index befindet sich aber weiterhin in einem sehr tiefen Tal. An den Aktienmärkten ist das etwas anders: Hier haben sich die Kursentwicklungen wegen der Notenbankpolitik etwas von der Realwirtschaft gelöst.

Und für die Realwirtschaft sieht es weiter düster aus?

Die Wirtschaft wird noch für längere Zeit durch die Hygiene-Vorschriften belastet sein. Kunden werden sich beim Einkaufen zurückhalten, Tourismus wird in diesem Jahr nur sehr eingeschränkt möglich sein. Wir befinden uns in einer Art 90-Prozent-Wirtschaft, eine V-artige Erholung sehe ich daher nicht.

Ein V-Szenario hatte der Sachverständigenrat der Bundesregierung prognostiziert. Der Buchstabe steht bildlich für einen scharfen Einbruch und eine steile Erholung – anders als beim U-Szenario, mit einer langen Talsohle und einem L-Szenario, bei der es nach dem Einbruch gar nicht mehr aufwärts geht. Warum widersprechen Sie den Wirtschaftsweisen?

Ich glaube nicht, dass der Sachverständigenrat und ich so weit auseinanderliegen. Jede Konjunkturprognose basiert auf Annahmen. Und die zuversichtliche Prognose des Sachverständigenrates mit einem V-Szenario ist Mitte März erstellt worden. Damals waren auch die Prognosen im ifo-Institut noch positiver.

Rechnen Sie dann mit einem U oder einem L?

Weder noch. Ich rechne mit einem Szenario, das – um bei dieser bildlichen Darstellung zu bleiben – an ein spiegelverkehrtes Wurzelzeichen erinnert.

Das klingt kompliziert.

Man muss sich das so vorstellen: Auf den starken Einbruch der Wirtschaft folgt eine rasche Erholung – allerdings nicht zurück auf das Ausgangsniveau. Stattdessen wird die Konjunktur für einige Zeit auf niedrigerem Niveau bleiben.

Mitte März waren die Befürchtungen groß, dass eine große Insolvenzwelle durchs Land rauschen wird. Bis auf wenige Pleiten ist das bislang ausgeblieben. Hat das Eingreifen der Bundesregierung mit günstigen Krediten und Soforthilfen Schlimmeres verhindert?

Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Maßnahmen richtig waren und geholfen haben. Wir sind aber noch nicht im grünen Bereich. Die Insolvenzwelle kann immer noch kommen. Zumal es jetzt ein Gesetz gibt, dass Geschäftsführer von der Pflicht entbindet, Insolvenz anzumelden, wenn der Grund der Insolvenz in der Pandemie liegt. Damit ist das Problem der drohenden Insolvenzen nur zeitlich verschoben worden.

Welche Branchen sehen Sie besonders bedroht?

Das sind die bekannten Branchen wie Gastronomie, Messe, Tourismus, Flugverkehr und natürlich der Einzelhandel. Genauso sind diejenigen Teile der Industrie betroffen, deren Wertschöpfungsketten unterbrochen sind.

Die Lufthansa soll dank eines Einstiegs des Staates weiterfliegen. Ein richtiger Schritt?

Grundsätzlich halte ich es für richtig, dass man die Lufthansa stützt. Konkret will der Bund jetzt aber sechs Milliarden für die Beteiligung ausgeben und drei Milliarden für Kredite. Da muss man sich schon fragen, ob die Altaktionäre angemessen haften und der Bund einen fairen Aktienanteil erhält. Aber als Außenstehender kann ich das nur schwer beurteilen.

Dennoch klingt das so, als hätten Sie Zweifel, dass der Staat ein gutes Geschäft gemacht hat.

Nein, diesen Verdacht will ich nicht äußern, ich kenne ja die Details nicht. Ich formuliere es einmal so: Es wäre schön, wenn die Bundesregierung dem Steuerzahler darlegen könnte, dass die Lufthansa-Rettung zu fairen Bedingungen erfolgt ist.

Auch die Autoindustrie ruft nach Hilfen in Form von Kaufprämien für Neuwagen. Wie ist dieser Vorschlag aus ökonomischer Sicht zu beurteilen?

Aus Studien wissen wir, dass solche Prämien nicht zu Mehrverkäufen führen, sondern nur zu einer zeitlichen Verlagerung von Käufen. Ich bin daher skeptisch, was solche Prämien angeht. Und was man auf keinen Fall machen darf, ist eine Abwrackprämie, bei der fahrtüchtige Autos zerstört werden. Ich bezweifle auch, dass es der Wirtschaft insgesamt nutzt, wenn die auf Halde produzierten Autos jetzt verkauft werden.

Wie müsste aus Ihrer Sicht ein Konjunkturpaket insgesamt für Deutschland aussehen?

Man müsste Unternehmen viel stärker als bisher erlauben, dass Verluste aus dem Jahre 2020 mit Gewinnen der vergangenen Jahre verrechnet werden dürfen. Das würde die Gewinnsteuern der Unternehmen schmälern. Und das wäre auch fair. Dann würde sich der Staat nicht nur an den Unternehmensgewinnen beteiligen, sondern auch an Verlusten.

Auch die EU will die Wirtschaft wieder ankurbeln. Geplant ist ein gigantischer Wiederaufbaufonds. 500 Milliarden Euro sind als Direkthilfen vorgesehen, 250 Milliarden Euro als Kredite. Ist das der richtige Weg aus der Krise?

Ich halte es für richtig, dass man sich auf europäischer Ebene darüber Gedanken macht, die europäische Wirtschaft und die am härtesten getroffenen Sektoren zu stützen. Ob dieser Fonds das richtige Instrument ist, hängt davon ab, wie das Geld am Ende verwendet wird. Es ist eine Sache, von großen Beträgen zu reden und Geld bereitzustellen. Eine andere Sache ist es, das Geld auch sinnvoll einzusetzen.

Das heißt?

Die EU darf auf keinen Fall nur ein kurzfristiges Strohfeuer entzünden. Europa braucht Investitionen, die einen nachhaltigen Mehrwert bringen. Es sollten Investitionen sein, die der private Sektor nicht tätigt und die nicht von den Nationalstaaten längst eingeplant sind.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Seit Jahren gibt es in Europa Probleme bei grenzüberschreitenden Bahnstrecken, Autobahnen und bei grenzüberschreitenden Strom- und Kommunikationsnetzen. Wenn hier investiert wird, könnten die EU-Milliarden einen Mehrwert stiften.

Sie klingen so, als würden Sie der EU nicht so richtig zutrauen, dass sie es hinbekommt, das Geld richtig auszugeben.

Ich will nicht von vornherein sagen, dass das nicht funktioniert. Aber das hinzubekommen, ist tatsächlich gar nicht so einfach. Nur weil jetzt dieser Fonds kommt, ist damit noch lange nicht gesagt, dass damit auch etwas gewonnen ist.

Halten Sie die Finanzierung des Fonds über Schulden auf EU-Ebene für richtig?

Ja. Wir müssen die Besonderheit dieser Krise sehen. Die jetzt geplanten EU-Schulden werden oft mit Euro-Bonds verglichen. Euro-Bonds sind aber etwas fundamental anderes. Die Idee von Euro-Bonds ist, Schulden der Vergangenheit zusammenzuwerfen und den Nationalstaaten zu garantieren, dass für ihre Schulden gehaftet wird.

Aber auch jetzt soll es einen Haftungsverbund geben.

Jetzt geht es aber um eine einmalige Krisensituation. Hier werden Schulden einmalig aufgenommen für einen klar definierten Zweck – und zu extrem niedrigen Zinsen. Zudem soll es einen Tilgungsplan geben. Unter diesen Bedingungen sind Schulden auf EU-Ebene akzeptabel.

Auch die europäischen Nationalstaaten stemmen sich mit neuen Schulden gegen die Krise. Es gibt Berechnungen, wonach Italien im Jahr 2021 Staatsschulden in Höhe von 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts drohen.

Diese Zahl halte ich für zu hoch gegriffen. Das ist sehr pessimistisch.

Was schätzen Sie?

Italien ist mit einer Schuldenquote von 133 Prozent in die Krise gegangen. Ich vermute, dass die Verschuldung nach der Krise zwischen 155 und 160 Prozent des BIP liegen wird.

Aber auch dieses Niveau ist sehr hoch.

Ja, das ist sehr besorgniserregend. Ein Staat muss aber seine Schulden nicht zwingend zurückzahlen.

Sondern?

Ein Staat muss seine Schulden bedienen können. Dafür sind zwei Dinge erforderlich: Zum einen muss der Staat die Zinsen zahlen können. Zum anderen muss der Staat immer wieder Investoren finden, die bereit sind, ihm Geld zu leihen. Nachhaltigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, wenn es einem Land gelingt, die Schuldenquote zu stabilisieren.

Kann das bei einer Schuldenquote von 160 Prozent des BIP gelingen?

Grundsätzlich ja. Zum einen sind die Zinsen aktuell sehr niedrig. Zum anderen sinkt die Schuldenquote auch ohne Tilgung, wenn die Wirtschaft wächst, also das BIP zulegt. Gelingt es Italien, spürbar mehr Wachstum zu bekommen, dann kann es gelingen, die Schuldenquote zurückzubringen. Dass Italien Finanzdisziplin besitzt, hat es in den vergangenen zehn Jahren bewiesen.

Ob die italienische Wirtschaft aber wirklich stark wachsen wird, ist nicht ausgemacht.

Natürlich kann es passieren, dass Unternehmen jetzt einen Bogen um Italien machen, weil sie befürchten, dass dort wegen der hohen Staatsschulden die Steuern steigen. Dann würde Italien nach dieser Krise in eine sehr kritische Situation hineingeraten und die Eurozone müsste sich auf erhebliche Spannungen gefasst machen.

Stünde die Eurozone dann vor dem Kollaps?

Nein, das glaube ich nicht. Klar ist, die Eurozone steht unter Druck, die Spannungen wachsen. Es wird nötig sein, dass die EZB und die Gemeinschaft der Euro-Staaten dafür sorgen, dass die Zinsen niedrig bleiben. Und sollte es Italien nicht gelingen, die Schuldenquote zu senken, müsste man über eine Restrukturierung der Schulden sprechen.

Sie meinen einen Schuldenschnitt, bei dem die Gläubiger auf einen Teil ihres Geldes verzichten?

Ein Schuldenschnitt wäre eine Möglichkeit. Alternativ gäbe es auch den Ausweg einer einmaligen Vermögensabgabe in Italien oder einer Vergemeinschaftung der Schulden auf europäischer Ebene – wobei ich die beiden letzten Punkte für unwahrscheinlich halte, genauso wie übrigens einen Euro-Austritt Italiens.

Noch sind diese Szenarien sehr abstrakt. Worauf müssen sich Unternehmen in den kommenden Monaten ganz konkret einstellen?

Wir wissen nicht, ob es im Herbst eine zweite Infektionswelle geben wird. Für die Wirtschaft wäre es extrem negativ, wenn es wieder zu großflächigen Schließungen käme. Auch gibt es noch keine Aussicht, dass das Virus durch Impfungen oder Behandlungen unter Kontrolle gebracht werden kann. Wir können nur hoffen, dass die Hygiene-Konzepte so ausgefeilt sind, dass wir eben nicht in eine zweite Welle hineinrutschen. Einen zweiten flächendeckenden Lockdown darf es auf keinen Fall geben.

Was wäre die Folge, sollte es doch dazu kommen?

Dann würde sich die Rezession noch einmal verschärfen – und uns droht am Ende doch ein L-Szenario.

Interview: Sebastian Hölzle

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