Trostberg – Wer weder Landwirt noch Chemiker ist, dürfte über Kalkstickstoff nicht allzu viel wissen. In der Landwirtschaft spielt er allerdings seit mehr als 100 Jahren eine wichtige Rolle: Die kleinen schwarzen Perlen sind als Dünger bekannt, der auch Unkraut und Schädlinge bekämpft.
In ganz Europa gibt es nur einen Hersteller von Kalkstickstoff: das Chemieunternehmen Alzchem im oberbayerischen Trostberg. Und das stellt neben Düngemittel auch medizinische Vorprodukte aus Kalkstickstoff her – aktuell zum Beispiel Bestandteile für Corona-Antikörpertests. Die Produktion sieht Alzchem-Chef Andreas Niedermaier jetzt aber als gefährdet an – weil die EU Kalkstickstoff in der Landwirtschaft verbieten könnte.
„Wenn Kalkstickstoff als Düngemittel verboten wird, fällt etwa die Hälfte unserer Produktion weg“, sagt Niedermaier. „Und dann müssen wir überlegen, ob sich für uns die Produktion von Kalkstickstoff noch lohnt.“ Alzchem liefere seit Jahren an Pharmakonzerne wie Roche sogenannte Guanidine auf Kalkstickstoffbasis – die lösen bei Antikörpertests die Zellhaut auf, um das Virus analysierbar zu machen, und finden bereits bei DNA-Tests für Strafdelikte Anwendung. Seit Corona habe Alzchem die Produktion von Guanidinen verdreifacht.
Die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) will nun ein Verbot für Kalkstickstoff als Düngemittel in die Wege leiten – man könne nicht ausschließen, dass der Dünger eine Gefahr für Mensch und Umwelt sei, heißt es in einem 259-seitigen Gutachten.
„Das ist aus unserer Sicht aber völlig unbegründet“, sagt Andreas Niedermaier. „Denn bei sachgemäßer Anwendung besteht keine Gefahr für Mensch und Umwelt.“ Er ist sauer: „Nachdem wir 112 Jahre lang Kalkstickstoff produziert haben, schlägt die ECHA plötzlich ein Verbot vor.“
Laut ECHA bestehe das Risiko, dass Kalkstickstoff bei Starkregen vom Feld in ein angrenzendes Gewässer gespült werden könnte. „Wir haben in 112 Jahren keinen einzigen Bericht über einen Umweltschaden erhalten und auch niemals einen Haftpflichtfall gehabt, weil Kalkstickstoff in ein Gewässer gelangt wäre“, sagt Niedermaier. „Das liegt daran, dass die Landwirte den Dünger zielgerichtet und sachgerecht anwenden.“ Die Menge mache das Gift, meint er. So sei das auch beim Kalkstickstoff.
Die deutsche Dünge-Verordnung schreibe bis ins Detail vor, wie der Dünger angewendet werden muss. „Die ECHA lässt diese Verordnungen bei ihrer Risiko-Analyse aber völlig außer Acht.“
Eine Sprecherin des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft bestätigt gegenüber unserer Zeitung, dass Kalkstickstoff als Düngemittel nach der Europäischen Düngemittelverordnung zwar zugelassen sei – mit Blick auf „Risiken für Anwender, wenn entsprechende Anwendungs- und Sicherheitshinweise nicht beachtet werden“, sei Kalkstickstoff aber zunehmend in Kritik geraten. Ein ECHA-Sprecher sagte gegenüber der Agrar-Nachrichtenagentur Agra Europe, dass Kalkstickstoff auch als Problem gesehen werde, weil er als Düngemittel und nicht als Pflanzenschutzmittel zugelassen sei – dabei wird er vor allem wegen seiner herbiziden Wirkung eingesetzt. Zudem werde die Verwendung als Dünger sowohl für Oberflächengewässer als auch für den Boden nicht ausreichend kontrolliert.
Der Bayerische Bauernverband spricht sich hingegen energisch für die weitere Zulassung von Kalkstickstoff aus. Die verzögerte Nitratbildung bewirke geringere Nitratgehalte zum Beispiel im Gemüse. Kalkstickstoff zersetze sich zudem im Boden zu Calciumhydroxid und Cyanamid, „welches für Unkräuter und manche Schadorganismen nicht verträglich ist“. Der BBV verweist darauf, dass die ECHA selbst in einem Dossier schreibe, dass unklar sei, „ob sich ein Verbot positiv, neutral oder sogar negativ auf die Umwelt auswirke“.
Skepsis über die Verbotspläne gibt es auch bei der EU-Agrarpolitikerin Marlene Mortler: „Landwirte wenden Kalkstickstoff seit 100 Jahren an und kennen seine Eigenschaften.“ Auch Niedermaier sagt: „Man kann doch nicht einfach sagen: Wir wissen nicht, ob die Landwirte den Dünger richtig anwenden, und deshalb verbieten wir ihn.“ Würde Kalkstickstoff verboten, könnte das zu „einem Effekt führen, den keiner will“, meint er. „Dass die einzige Produktionsanlage in Europa geschlossen wird und wir den Rohstoff Kalkstickstoff aus China beziehen müssen.“ Auch was die Antikörpertests angeht, könnte sich Europa dann auf lange Sicht von China abhängig machen. KATHRIN BRAUN