Die Demontage eines Dax-Konzerns

von Redaktion

VON THOMAS MAGENHEIM-HÖRMANN

München – Es ist die Selbstdemontage eines Dax-Konzerns. Drei Stunden bevor der Zahlungsdienstleister Wirecard aus Aschheim seine bereits dreimal verschobene Bilanzvorlage nachholen wollte, musste sie erneut vertagt werden. Die Begründung dafür hat es in sich. Der für den Konzern zuständige Wirtschaftsprüfer Ernst & Young (EY) hat der Bilanz 2019 sein Testat verweigert. Für eine auf Treuhandkonten deponierte Summe von 1,9 Milliarden Euro – ein Viertel der Konzernbilanzsumme – lägen keine ausreichenden Prüfungsnachweise vor, bemängelt EY. Ohne testierte Bilanz können Banken am Freitag Kredite im Umfang von zwei Milliarden Euro kündigen, warnt Wirecard.

Der Konzern sieht sich allerdings als Opfer und nicht Verursacher der Misere. „Die Wirecard AG wird Anzeige gegen Unbekannt stellen“, erklärte der selbst mit Rücktrittsforderungen konfrontierte Konzernchef Markus Braun. Wirecard könnte Opfer eines „gigantischen Betrugs“ sein, ergänzte ein Firmensprecher. Damit weisen die Aschheimer auf zwei namentlich nicht genannte asiatische Banken. Sie führen die fragwürdigen Treuhandkonten, deren Kontonummern EY nicht zuordnen kann. Die Prüfer fühlen sich getäuscht, wobei die Frage ist, von wem. In der Chefetage gibt es erste Konsequenzen: Vorstand Jan Marsalek sei mit sofortiger Wirkung freigestellt, hieß es.

Kritiker des seit Anfang 2019 hartnäckig unter Betrugsverdacht stehenden Unternehmens sehen die Unschuldsbehauptungen des Wirecard-Vorstandes nicht als glaubhaft an. Die Vorgänge bei Wirecard haben sich „nun endgültig zu einem handfesten Bilanzskandal ausgeweitet“, betont Rechtsanwalt Andreas Tilp. Am Landgericht München hat die beim VW-Abgasskandal aktive Kanzlei schon vor einem Monat eine erste Anlegerklage gegen Wirecard eingereicht und Antrag auf Einleitung eines Musterverfahrens nach VW-Vorbild gestellt. Diese Klage werde nun erweitert, kündigte Tilp an. Über 2000 an einer Musterklage interessierte Anleger haben sich bei der Kanzlei bislang gemeldet.

Gegen Wirecard braut sich aber noch mehr zusammen. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt wegen Marktmanipulation gegen die vierköpfige Führungsriege des Konzerns inklusive Braun. Bei einer jüngsten Razzia in den Firmenräumen wurde unter anderem sein Handy beschlagnahmt. Strafanzeige gestellt hatte die deutsche Finanzaufsicht Bafin, weil auch sie falsche und irreführende Kapitalmarktinformation vermutet, mit eigenen Ermittlungsmöglichkeiten aber nicht mehr weiterkommt. Die Aktionärsschutzvereinigung DSW fordert eine Ausweitung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen auf Falschbilanzierung und hält den Konzern nicht mehr für Dax-fähig. „Wir sind in der Situation, dass Wirecard selbst nicht mehr für Aufklärung und Vertrauen sorgen kann“, meint DSW-Chef Marc Tüngler. Anlegeranwalt Weiss sieht indessen nicht nur die Dax-Mitgliedschaft von Wirecard, sondern auch deren Banklizenz in Gefahr. Es wäre das erste Mal, dass ein Dax-Konzern wegen Verfehlungen den führenden deutschen Aktienindex verlassen muss. Drohen könnte Wirecard das allerdings mangels ausreichender Marktkapitalisierung schon im September. Die Börse hat ihr Urteil schon gefällt. Der Kurs der Aktie brach zwischenzeitlich um 70 Prozent ein.

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