Aschheim – Bei Wirecard zeichnet sich ein Finanzskandal historischen Ausmaßes ab. „Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit“ bestehen 1,9 Milliarden Euro, die auf philippinischen Treuhandkonten liegen sollten, nicht, räumt der Zahlungsdienstleister aus Aschheim bei München ein. Das Geld macht ein Viertel der Bilanzsumme aus und hat theoretisch als Sicherheit für bargeldlosen Zahlungsverkehr gedient, den Wirecard selbst sowie über Drittpartner in aller Welt managt. Auf diese Hiobsbotschaft folgen mehrere weitere. Mit dem Fall befasste Wirtschaftsanwälte gehen laut „SZ“ sogar davon aus, dass die Staatsanwaltschaft München I Haftbefehle gegen Markus Braun und Jan Marsalek – die beiden langjährigen Manager des Internetkonzerns – beantragen wird. Untersuchungshaft wäre demnach möglich, wenn Flucht- oder Verdunkelungsgefahr vorläge.
Teile des für 2019 und das erste Quartal 2020 ausgewiesenen Geschäfts haben möglicherweise nicht existiert. Auch bei früheren Geschäftsjahren könnte das so sein. „Wir befinden uns mitten in der entsetzlichsten Situation, in der ich jemals einen Dax-Konzern gesehen habe“, wertet der Chef der deutschen Finanzsaufsicht Bafin, Felix Hufeld, die Vorgänge. Was passiert ist, sei ein Desaster und eine Schande. Zugleich räumte er Mitschuld ein. „Wir sind nicht effektiv genug gewesen, um zu verhindern, dass so etwas passiert.“
Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing sprach von einer „ernsten Angelegenheit“, die Auswirkungen über Wirecard hinaus haben könnte. Von Ermittlern aller Art und auch dem Dax-Konzern selbst wird mittlerweile untersucht, ob durch Bilanzfälschung mittels erfundener Scheinumsätze die Geschäfte jahrelang systematisch aufgebläht worden sind.
Große Fragezeichen stehen hinter dem Geschäftsjahr 2019, das längst bilanziert sein sollte. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY verweigert aber das Testat, weil sie die Existenz in der Bilanz ausgewiesener fast zwei Milliarden Euro in Zweifel zieht. Das Misstrauen war gerechtfertigt. Ein Wirecard-Ermittlerteam auf den Philippinen kann das Geld ebenso wenig finden wie die philippinische Zentralbank.
Große Zweifel sind hinsichtlich des Treuhänders laut geworden, der für Wirecard 2019 auf den Philippinen angeblich Treuhandkonten über die Riesensumme eingerichtet hat. Bei ihm handelt es sich um Rechtsanwalt Mark Tolentino, bestätigt ein Insider. 2018 ist der damalige Staatsbedienstete vom philippinischen Staatspräsidenten Rodrigo Duterte wegen ungebührlichen Verhaltens im Zusammenhang mit einem staatlichen Bahnprojekt gefeuert worden, erfährt man bei einer einfachen Internet-recherche.
In einer jüngsten Wirecard-Sonderprüfung des EY-Konkurrenten KPMG ist anonymisiert von einem Treuhänder die Rede, bei dem es sich um Tolentino handeln dürfte. Darin kritisiert KPMG, dass Wirecard dessen Zuverlässigkeit bei seiner Bestellung im Herbst 2019 offenbar schlicht nicht geprüft hat.
Es kommt aber noch schlimmer. „Der Vorstand geht außerdem davon aus, dass die bisherigen Beschreibungen des sogenannten Drittpartnergeschäfts durch die Gesellschaft (gemeint ist Wirecard, Anm. d. Red.) unzutreffend sind“, teilt der Dax-Konzern mit. Wirecard verfügt nicht in allen Ländern über eigene Geschäftslizenzen und kooperiert dort mit Partnerfirmen. Über diese sind in der Vergangenheit große Teile des Geschäfts gelaufen. In manchem Jahr war es ein Drittel der Umsätze und die Hälfte der Gewinne.
Fragezeichen stehen dabei vor allem hinter einem Wirecard-Partner in Dubai namens Al Alam. Der hat jüngst den Betrieb eingestellt und KPMG im April dieses Jahres jede Auskunft verweigert. Spätestens dann hätten bei Wirecard-Managern alle Alarmglocken schrillen müssen. Die hatten aber bis zuletzt alle Vorwürfe als verleumderisch dementiert. Nun untersucht man in Aschheim, in welcher Art und Weise sowie in welchem Umfang Drittpartnergeschäfte tatsächlich zugunsten von Wirecard geführt wurden.
Bisherige Prognosen von 2,8 Milliarden Euro Umsatz und 785 Millionen Euro operativem Gewinn im Geschäftsjahr 2019, Aussagen zum Auftaktquartal 2020 sowie für kommende Jahre wurden kassiert. „Mögliche Auswirkungen auf die Jahresabschlüsse vorangegangener Jahre können nicht ausgeschlossen werden“, warnt Wirecard ferner. Das heißt, die Bilanzen mehrerer Geschäftsjahre könnten falsch sein, was die britische Finanzzeitung „Financial Times“ seit Anfang 2019 vermutet.
Damit ist die Existenz von Wirecard bedroht. Den Stecker ziehen könnten kreditgebende Banken. Eine zwei Milliarden Euro umfassende Kreditlinie läuft Ende Juni aus. Sie muss erneuert werden, sonst drohen akute Liquiditätsnöte. Das Bankenkonsortium will das dem Vernehmen nach verhindern. Aber Liquiditätsnöte drohen auch, wenn Wirecard-Kunden ihre Mittel abziehen.
Der Dax-Konzern verfügt über eine Banklizenz und 1,7 Milliarden Euro an Kundengeldern. Nun steht bei den Aschheimern mit ihren 5 800 Beschäftigten alles zur Disposition. Geprüft werden Kostensenkung, Notverkäufe oder Einstellung von Unternehmensteilen sowie Produktsegmenten.