Warum die Pleitewelle auf sich warten lässt

von Redaktion

VON THOMAS MAGENHEIM-HÖRMANN

München – Die Situation ist bizarr. „Wir haben die größte Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, aber trotzdem aktuell einen starken Rückgang bei Firmeninsolvenzen“, sagt Christoph Niering. Diesen August seien 40 Prozent weniger Insolvenzanträge gestellt worden als August vorigen Jahres, weiß der Chef des Verbandes der Insolvenzverwalter Deutschlands (VID).

Für das erste Halbjahr 2020 hatte das Statistische Bundesamt einen Rückgang um gut sechs Prozent auf 9006 Firmenpleiten konstatiert. Dabei war 2019 schon ein historisches Tief bei Pleiten erreicht. Grund für ausbleibende Insolvenzen trotz wirtschaftsschädigender Pandemie ist das Aussetzen der Meldepflichten durch die Politik. Die treten aber langsam wieder in Kraft.

„Nur für überschuldete Unternehmen bleibt die Anmeldepflicht bis Jahresende ausgesetzt“, sagt Niering. Beim Hauptpleitegrund Zahlungsunfähigkeit ist die Anmeldepflicht seit 1. Oktober wieder gültig. Dann erwartet Niering eine Trendwende, wenn auch nicht die vielfach befürchtete Pleitewelle. Die Verantwortlichen würden jetzt nicht scharenweise zum Insolvenzgericht laufen, schätzt der VID-Chef und nennt dafür zwei Gründe. „Die Unternehmen hoffen bis zum Schluss auf Staatshilfe, zudem sind Finanzämter und Kassen bei den Fremdanträgen deutlich zurückhaltender geworden.“

Letztere gelten als Profigläubiger, deren Forderungen oft Pleiten auslösen. Derzeit halten sie sich aber zurück. „Finanzämter und Kassen möchten in der allgemeinen Krise nicht Auslöser einer Insolvenzwelle sein“, erklärt der VID-Chef. Manager wiederum schielen auf das Wahljahr 2021 und weitere politische Hilfen.

Wer zahlungsunfähig ist und ab Oktober nicht zum Insolvenzgericht geht, mache sich der Insolvenzverschleppung strafbar, betont der Experte. Die politisch errichteten Dämme gegen eine Pleitewelle kann er nachvollziehen, dennoch warnt Niering. „Bei Insolvenzen ist es wie bei einer Krankheit, wenn man zu lange wartet, wird es immer schwieriger, etwas zu retten“, sagt der Jurist. Bedenken, dass die Kapazitäten der rund 2200 deutschen Insolvenzverwalter bald erschöpft sein könnten, hat er nicht. Zwar seien nur rund ein Drittel von ihnen erfahrene Profisanierer mit mehreren Fällen jährlich. Aber derzeit hätten sie kaum etwas zu tun.

Es gibt Ausnahmen wie Topsanierer Michael Jaffé in München. Er versucht derzeit beim Skandalkonzern Wirecard und der Containerfirma P&R zu retten, was zu retten ist. Im Feuer stehen mehrere Milliarden Euro.

Der Eindruck, dass große spektakuläre Fälle immer bei den gleichen Insolvenzverwaltern landen, sei richtig, sagt Niering. Er hält das für gerechtfertigt, weil komplexe Großpleiten mit zigtausenden Gläubigern Erfahrung und ein großes Sanierungsteam mit dutzenden Spezialisten erfordern. Eingesetzt werden die von Richtern und bei Großpleiten von einem Gläubigerausschuss. Insolvenzverwaltern winkt dabei teils viel Geld. So hat Verwalter Michael Frege für die Sanierung des deutschen Arms von Lehman Brothers rund eine halbe Milliarde Euro Honorar kassiert.

„Das war aber ein absoluter Ausnahmefall“, sagt Niering. Normal erreichten Tophonorare maximal 40 Millionen Euro. Das verteile sich auf ein Sanierungsteam mit dutzenden Spezialisten, die oft mehrere Jahre an einem Fall arbeiten. Bei großen Fällen stünden einem Sanierer 0,5 Prozent der von ihm gesicherten Insolvenzmasse zu. Im Fall von Wirecard laufe das derzeit auf wenige Millionen Euro hinaus. Aber solche Großpleiten machen statistisch ohnehin weniger als ein Prozent aller Fälle aus.

Die Rückkehr zum Normalzustand mit wieder uneingeschränkt geltenden Insolvenz-Meldepflichten erwartet die Branche Anfang 2021. „Die Zahl der Pleiten könnte dann zehn bis zwanzig Prozent über dem niedrigen Niveau von 2019 liegen“, schätzt Niering. Dramatisch wäre das nicht. 2019 sind in Deutschland knapp 19 000 Firmen pleitegegangen. Im Zuge der Finanzkrise 2009 waren es über 32 000 Insolvenzen. „Da kommen wir wahrscheinlich nicht hin“, beruhigt Niering. Große Probleme sieht er dagegen bei Solo-Selbstständigen, Freiberuflern sowie Einzelhändlern, die von der Corona-Krise besonders betroffen sind. Im Handel habe die Pandemie einen Schub zu Onlinegeschäften ausgelöst und bestehende Schwierigkeiten vergrößert.

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