Biontech: Der Milliarden-Konzern türkischer Einwandererkinder

von Redaktion

Mainz – Von Iskenderun am östlichsten Ausläufer des Mittelmeeres nach Mainz am nördlichen Rand der rheinhessischen Weinregion: Eigentlich sollte die Herkunft von Ugur Sahin (55) gleichgültig sein, schließlich geht es hier vor allem um medizinische Forschung. Doch wenn ein Einwanderer aus der Türkei in Deutschland das Unternehmen gründet, das den weltweiten Kampf gegen Corona anführt, ist das auch ein Politikum. Sahin und seine Frau Özlem Türeci sind die Gründer von Biontech. Spätestens im Januar will das Unternehmen einen hochwirksamen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 auf den Markt bringen.

Der Marktwert von Biontech liegt seit den jüngsten Erfolgsmeldungen bei 21 Milliarden Euro. Das entspricht dem Wert des Nivea-Konzerns Beiersdorf. Dabei hat Biontech bisher noch keinen Gewinn gemacht. Der Corona-Impfstoff ist das erste massentaugliche Produkt des Unternehmens. Er ist das Ergebnis eines festen Glaubens der Gründer an die Anwendbarkeit der Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung.

Sahin wirkt bei seinen Auftritten bescheiden, von Glamour und Inszenierung keine Spur. Sachlich und mit sanfter Stimme berichtet er von Forschungen – mehr zurückhaltender Wissenschaftler als smarter Vorstandschef.

Türeci und Sahin haben Biontech 2008 gegründet. Der Zweck der Firma ist die Anwendung von Boten-Ribonukleinsäure (mRNA) zur Therapie und Verbeugung zahlreicher Krankheiten.

Die mRNA speichert Baupläne für Moleküle. Damit lassen sich auch Heilmittel und Impfstoffe beschreiben. Die Lesemaschine für diese Baupläne befindet sich in den Körperzellen. Medikamente von Biontech enthalten also nicht den eigentlichen Wirkstoff, sondern nur seine Blaupause. Erst die Zellen des Patienten stellen die Zielsubstanz her. Der Trick – und das besondere Können von Biontech – besteht darin, die mRNA so zu verpacken, dass sie auch in der Zelle ankommt. Türeci und Sahin hatten ursprünglich erwartet, dass die erste Praxisanwendung eine maßgeschneiderte Krebstherapie sein würde. Jetzt ist es die Corona-Impfung.

Die 53-jährige Türeci wurde als Tochter eines türkischen Arztes in Niedersachsen geboren. Sahin ist im Alter von vier Jahren mit seiner Familie nach Nordrhein-Westfalen gekommen: In den 1960er-Jahren hat die deutsche Industrie Arbeiter aus der Türkei angeworben, und einer davon war sein Vater, der bei Ford in Köln arbeitete. Dort studierte Sahin nach dem Abitur Medizin. Er blieb in der Forschung. Ende der 1990er-Jahre wechselte er an die Uniklinik des Saarlandes in Homburg, wo er und Türeci sich kennenlernten. Sie hatte in Homburg Medizin studiert und interessierte sich ebenfalls für die Krebsforschung.

Beide gingen später nach Mainz, wo sie an gentechnischer Tumor-Therapie arbeiteten. Dem international eingestellten Forscherpaar fiel schnell auf, dass es in Deutschland ein Missverhältnis zwischen Wissenschaft und Anwendung gab. Die Idee zur eigenen Firmengründung reifte heran. Die Mischung aus global konkurrenzfähiger Forschung und Unternehmergeist zahlte sich letztlich aus, wie die Erfolge von Biontech zeigen. Bis dahin war der Weg aber mühsam. Es galt, Geldgeber anzuwerben – und das ist traditionell in den USA einfacher als in Deutschland, wo die Kultur der Risikofinanzierung weniger ausgeprägt ist.

Wichtiger Investor wurde der Pharmaunternehmer Thomas Strüngmann (70). Er sei aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, meint Strüngmann, der sich als Investor gerne im Hintergrund hält. Biontech-Gründer Ugur Sahin und seinem Team sei etwas „ganz, ganz Großartiges gelungen, indem sie einen Impfstoff in so kurzer Zeit entwickelt haben“, erklärt Strüngmann. Normalerweise dauere das Jahre. „Das kann man gar nicht hoch genug schätzen.“ Thomas und sein eineiiger Zwillingsbruder Andreas sind in Rottach-Egern aufgewachsen und übernahmen 1979 die väterliche Firma Durachemie. 1986 gründeten die Brüder das Holzkirchener Unternehmen Hexal, das 2005 für 7,54 Milliarden US-Dollar an Novartis ging. Inzwischen haben die Zwillinge laut „Handelsblatt“ zusammen etwa 1,2 bis 1,3 Milliarden Euro in verschiedene Biotechfirmen investiert.

FINN MAYER-KUCKUK, CHRISTINA JACHERT-MAIER

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