„Schizophren, was Datenschutz angeht“ GASTKOMMENTAR zur Corona-Strategie

von Redaktion

Landauf, landab wird über einschränkende Maßnahmen wegen Covid-19 diskutiert. Die Mehrheit der Bevölkerung ist für strenge Regeln. Die Gesundheitsämter sind mit ihren Nachverfolgungsmaßnahmen aus dem Steinzeitalter über Telefon und Fax überfordert. Nur 15 Millionen Deutsche nutzen die Corona App. In Nigeria dagegen wird längst ein Digitaltool zur Überwachung von Kontaktpersonen eingesetzt (Sormas). Es wurde mit deutscher Hilfe aufgesetzt. Da können wir nur staunen. Warum schaffen wir es hierzulande nicht, eine Digitalstrategie zu entwickeln, um Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu schützen?

Fast ein ganzes Jahr beschäftigen wir uns schon mit der Pandemie. Die Strategie sollte in zwei Richtungen gehen: Zunächst müssten die Gesundheitsämter mit einer Software wie in Nigeria ausgerüstet werden. Diese würde für eine personelle Entlastung sorgen und die Nachverfolgung über elektronische Kontaktdaten erheblich erleichtern. Die Ämter könnten aber auch die Bewegungsprofile von Sormas nutzen. Oder vielleicht sogar die Kontaktdaten der sozialen Beziehungen, die bei den Webgiganten Facebook oder Google ohnehin vorhanden sind, um zu sehen, wer sich angesteckt hat und mit welchen Personen Kontakt bestand.

Dass dies technisch möglich ist, steht nicht infrage. Provokant lässt sich fragen: Warum hat die Bundesregierung nicht schon im Frühjahr von Facebook, das mit seinen Diensten WhatsApp, Instagram und Facebook von mehr als 90 Prozent der Bevölkerung genutzt wird, die Bewegungsdaten gekauft – oder gar angefordert? Dies hätte wohl für einen Aufschrei gesorgt. Wo bleibt denn da der Datenschutz! Wie bitte? Wie scheinheilig ist diese Diskussion? Anscheinend hat niemand ein Problem damit, freiwillig intime Einblicke seines Lebens amerikanischen Weltunternehmen zur Verfügung zu stellen, die mit „Big Data“ auf diese Weise die Basis für die Zukunft ihrer eigenen Wirtschaft bauen. Wenn aber unser Staat solche Bewegungsprofile oder Daten nutzen würde, wird laut nach dem Schutz der Informationen geschrien. Deutsche sind schizophren, was den Datenschutz angeht.

Wir müssen wieder ein gesundes Verhältnis dazu finden, welche Rechtsgüter uns wichtig sind und wie die Abwägung nach dem Grundgesetz der verschiedenen Rechtsgüter auszusehen hat – und zwar im konkreten Fall, nicht nur im Allgemeinen. Wieso wir mehr Angst vor unserem eigenen demokratischen Rechtsstaat haben als vor Unternehmen, die uns nicht nur mit Daten ausspähen, mit Produkten überhäufen, sondern so auch Einfluss auf unsere Willensbildung nehmen, bleibt absolut unverständlich.

Unsere staatlichen Einrichtungen, Behörden und Ämter haben sich immer schon schwergetan, moderne Technologien einzusetzen. Dass aber selbst in der größten Not, wenn es um Leben und Tod geht, kein Innovationsschritt gewagt wird, ist unfassbar. Bei den Gesundheitsämtern werden viele Menschen eingesetzt, um Kontakte händisch nachzuverfolgen. Diese Personen würden in der direkten Hilfsdienstleistung in Krankenhäusern, in Pflegeeinrichtungen oder Impfzentren dringender gebraucht. Wir sind nicht nur ängstlich und technikfeindlich, wir treffen anscheinend auch bei wichtigen Grundsatzfragen Entscheidungen, die Leib und Leben von Schutzbedürftigen gefährden.

Selbstverständlich sollte der Schutz der Privatsphäre, der Meinungs- und Pressefreiheit, der Bildrechte und der Verlags- und Urheberrechte höchste Priorität haben. Die Nutzung unserer Daten durch Webgiganten sollte begrenzt werden. Aber auch für den Schutz von Leben und Gesundheit müssen wir alles tun, was menschenmöglich ist, nicht nur in der Forschung, sondern auch in Verwaltung und Organisation. Deshalb: Digitalstrategie, kurzfristig und jetzt. Die Pandemie ist noch nicht ausgestanden und die nächste kommt bestimmt.

* Dr. Frank Meik ist geschäftsführender Gesellschafter des MW Verlags München und Autor der Bücher „Wir klicken uns um Freiheit und Verstand“, „Digitale Attacke“ und „Wege durch den Digitaldschungel“.

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