„Arbeit wird auch ohne Zwang flexibler“

von Redaktion

INTERVIEW Warum Bayerns Wirtschaft gegen eine Pflicht zum Homeoffice ist

München – Etwa ein Drittel der Beschäftigten in Deutschland arbeitet derzeit im Homeoffice. So will es auch das Infektionsschutzgesetz: Sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer gilt die Pflicht zum Homeoffice, wo immer das möglich ist. Viele Unternehmen sehen das mittlerweile kritisch und fordern Lockerungen. Wir sprachen darüber mit dem Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, Manfred Gößl.

Momentan braucht man gute Gründe, um im Büro zu arbeiten. Ist die Pflicht zum Homeoffice angesichts sinkender Corona-Inzidenzzahlen noch angebracht?

Nein, das ist sie nicht. Es ist höchste Zeit, dass sich der Bund – und es handelt sich bei Homeoffice- und Testangebotspflicht um Bundesregelungen – jetzt Ausstiegsszenarien überlegt, um die nicht mehr erforderlichen Eingriffe des Staates zu beenden. Wir müssen endlich zurück zur Normalität.

Die Regelungen sollen noch bis Ende Juni dauern. Kann man die Homeofficepflicht bis dahin nicht noch aushalten?

Darum geht es gar nicht. Die Homeofficepflicht ist durch eine epidemische Lage von nationaler Tragweite begründet. Und eine solche wird spätestens Ende Juni – dann wahrscheinlich bei Inzidenzzahlen um die 20 – nicht mehr gegeben sein. Der Staat entzieht Arbeitgebern und Arbeitnehmern Rechte. Wenn die Gefährdungslage nicht mehr besteht, muss er die Rechte wieder zurückgeben.

Sind Inzidenzzahlen als die maßgeblichen Zahlen aus Ihrer Sicht noch sinnvoll?

Nein. Auch die Experten empfehlen, stärker in die Krankenhäuser auf die Belegung der Intensivbetten zu schauen. In anderen Ländern hat die Inzidenz als maßgeblicher Faktor längst ausgedient, in der Schweiz und in Österreich zum Beispiel. Auch die Anzahl der Geimpften sollte eine stärkere Rolle spielen. Die Politik kann ihre Entscheidungen nicht an einen Algorithmus delegieren. Das muss schon noch eine Abwägungsentscheidung sein. Im Übrigen kann man die Entscheidungsgewalt auch wieder in die Hände der Länder legen, der Bund sollte sich zurücknehmen.

Sollte es einen Stufenplan geben, etwa für die Rückkehr von Geimpften und Genesenen in Einzel- oder Großraumbüros?

Unbedingt. Es versteht doch keiner mehr, dass ein Arbeitgeber einem doppelt geimpften Mitarbeiter zwei Mal in der Woche einen Test anbieten muss. Sinnvoll wäre jetzt, aus einer Verpflichtung wieder eine Empfehlung zu machen. Also: Testempfehlung statt Testverpflichtung und Homeoffice-Empfehlung statt Homeoffice-Verpflichtung.

Nach Umfragen will eine Mehrheit der Beschäftigten auch nach Corona öfter im Homeoffice arbeiten. Werden Unternehmen das einrichten können – und wollen?

Die Mehrheit der Unternehmen wird das Arbeiten von Zuhause oder von unterwegs weiterhin einräumen, einfach weil die heiß begehrten Fachkräfte das so möchten. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass der Fachkräftemangel in den kommenden Jahren wieder ein beherrschendes Thema sein wird. Ein attraktiver Arbeitgeber schafft attraktive flexible Arbeitsorte.

Was heißt das konkret?

Wir werden in den nächsten 20 Jahren zehn Prozent weniger Arbeitnehmer und ein Drittel mehr Rentner haben. Das wird bedeuten, dass die Unternehmen um Mitarbeiter werben müssen. Wir merken jetzt schon bei Bewerbungsgesprächen – übrigens nicht nur bei klassischen Bürojobs – dass die Leute sehr viel Wert darauf legen, flexibel arbeiten zu können. „Kann ich auch von zu Hause aus arbeiten?“ ist zu einer Standardfrage geworden.

Wie gestaltet sich das in der Praxis?

Da ist vieles möglich. Es geht von einem bis zu vier Tagen Homeoffice in der Woche. Ganz flexibel. Mindestens einmal in der Woche wollen die meisten Arbeitgeber ihre Mitarbeiter im Büro sehen. Umfragen sagen, dass die meisten Firmen Homeoffice an zwei bis drei Tagen in der Woche anbieten werden. Das ist immerhin die Hälfte der Arbeitszeit.

Das hat Auswirkungen über das Arbeiten hinaus.

Ja, Gewerbeimmobilienentwickler haben das mobile Arbeiten bereits in ihre Planungen einbezogen. In Zukunft wird weniger Bürofläche gebraucht. Zwar bekommt der einzelne Mitarbeiter im Büro wohl mehr Abstand – auch eine Folge von Corona. Dafür geht man davon aus, dass ein Drittel bis die Hälfte aller Beschäftigten nicht mehr täglich ins Büro kommen wird. Daher dürfte der Flächenbedarf um etwa 20 Prozent gegenüber der Vor-Corona-Zeit sinken.

Könnte es nicht auch ein Recht auf Homeoffice geben, wo Homeoffice möglich ist?

Wo es machbar und sinnvoll ist, werden Arbeitgeber ohnehin mobiles Arbeiten anbieten, schon um gute Fachkräfte zu gewinnen und zu binden. Ein individueller Anspruch ist aber nicht praktikabel, weil sich nicht jede Tätigkeit und jede Persönlichkeit eignet. In der Praxis zeigt sich, dass kreative Prozesse durch Homeoffice eher behindert werden, dagegen Routinearbeiten daheim oft besser erledigt werden können. Da besteht kein Regelungsbedarf: Wer gute Mitarbeiter haben will, wird die optimale Lösung für beide Seiten finden.

Wie wird sich das Arbeiten nach der Pandemie generell verändern?

Die Arbeit wird insgesamt flexibler. Auch wird die Zahl der Dienstreisen der Vor-Coronazeit nicht mehr zurückkommen. Alles jenseits von Weltleitmessen und zwingend notwendigen Präsenzterminen wird man sich zweimal überlegen. Man hat jetzt die Erfahrung, dass Video- oder Telefonkonferenzen in vielen Fällen effizienter sind. Firmen gehen davon aus, dass sie in Zukunft 20 bis 50 Prozent ihrer Reisekosten einsparen können. Das Stichwort der Zukunft wird „hybrid“ lauten. Also nicht ganz oder gar nicht, sondern je nach Bedarf – bei Dienstreisen wie bei Homeoffice. Das kommt auch den Mitarbeitern entgegen, die sich darauf freuen, mal wieder ins Büro zu können.

Interview: Corinna Maier

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