München – Die Inflation ist zurück: Im Mai sind die Preise in Deutschland verglichen mit dem Vorjahr um 2,5 Prozent gestiegen. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden bestätigte gestern eine entsprechende erste Schätzung (siehe Grafik). Droht in Zukunft alles noch teurer zu werden? Was bedeutet das für Zinsen und Aktienmärkte? Wir sprachen mit dem Chefvolkswirt der Bayerischen Landesbank, Jürgen Michels, über die aktuellen Marktentwicklungen.
Herr Michels, müssen wir in Zukunft mit immer weiter steigenden Preisen rechnen?
Zunächst muss man sich einmal anschauen, warum die Preise im Frühjahr so stark gestiegen sind. Wir beobachten hohe Inflationsraten ja nicht nur in Deutschland, in den USA beispielsweise liegt die Inflationsrate aktuell bei etwa fünf Prozent.
Wie kommt es zu dem plötzlichen Preisauftrieb?
In Deutschland gibt es eine ganze Reihe von Ursachen. Ein Treiber ist die Corona-Pandemie: Wir haben gesehen, dass durch den Lockdown zeitweise Wertschöpfungsketten unterbrochen waren. Container waren nicht dort, wo sie hätten beladen werden sollen. Das führte zu Verzögerungen im Handel, die Warenbestände wurden knapp, die Preise gingen nach oben. Oder nehmen wir das Beispiel Bauholz: Hier sind die Preise in astronomische Höhen geklettert. Im Lockdown wurde weiter gebaut, die Sägewerke standen aber still. Das führte zu einer Verknappung von Bauholz – der Preis stieg.
Das heißt, wir beobachten hier nur kurzfristige Preiseffekte?
Ja, genau. Auf diesen speziellen Märkten wird allmählich wieder Normalität einkehren, wenn das Angebot wieder steigt. Denkbar ist, dass bei einigen Produkten die Preise sogar wieder fallen. Nur erklärt die Preisentwicklung in diesen Märkten eben nicht alles.
Welche weiteren Ursachen beobachten Sie?
Weil während der Pandemie Einzelhandel sowie Gaststätten zeitweise geschlossen hatten und viele Urlaubsreisen ausgefallen sind, haben die Konsumenten weniger Geld ausgegeben – das sehen wir in einem Anstieg der Sparquoten. Mit dem Wegfall der Restriktionen können die Ersparnisse wieder ausgegeben werden. Zieht der Konsum an, können die Unternehmen höhere Preise verlangen.
Und die Verbraucher zahlen drauf.
Man darf nicht vergessen: Bei der Inflationsrate vergleicht man immer die aktuellen Preise für einen umfassenden Güter- und Warenkorb eines Monats mit den Preisen aus dem Vorjahresmonat. Vor einem Jahr waren die Preise wegen der Pandemie im Keller, entsprechend groß ist die Differenz zum Vorjahr. Hinzu kommen Sondereffekte: Im Juli 2020 wurde die Umsatzsteuer für einige Monate auf 16 Prozent gesenkt, jetzt liegt sie wieder bei 19 Prozent – das schlägt sich in den Preisen nieder.
Das heißt, die Inflationsraten bleiben in den kommenden Monaten hoch?
Ja. Wir werden in diesem Jahr noch Raten von deutlich über drei Prozent sehen. Im Herbst wird dann auch das Obst und Gemüse teurer sein als im Vorjahr, da das Frühjahr kalt und verregnet war und viele Blüten schlicht und einfach erfroren sind. Das schmälert das Angebot und treibt den Preis.
Mit welcher Inflationsrate rechnen Sie im Jahresdurchschnitt 2021?
Wir gehen aktuell von 2,5 Prozent aus.
Wie wird es in den Folgejahren in diesem Tempo weitergehen? Von der Krise betroffene Branchen – etwa Reiseunternehmen – könnten weiter an der Preisschraube drehen, um ihre Verluste auszugleichen.
Davon gehe ich nicht aus. Ein einfaches Beispiel: Wenn ein Hotelbetreiber für das Zimmer in diesem Jahr 120 Euro die Nacht statt 100 Euro wie im Vorjahr verlangt, und das Hotel diesen Preis in den Folgejahren beibehält, macht sich der Preissprung in der Inflationsrate nur einmal bemerkbar. Problematisch wird es, wenn das Zimmer ein Jahr später 140 Euro kostet und im Folgejahr 160 Euro. Aber damit ist in der Breite nicht zu rechnen. Beim CO2-Preis ist das jedoch anders.
Was erwarten Sie hier?
Der CO2-Preis dürfte in Zukunft Jahr für Jahr steigen, das führt zu höheren Preisen für viele Güter. Auch werden sich die Preise mittelfristig dadurch verteuern, weil Unternehmen in der Zeit nach Corona dazu übergehen, wieder mehr vor der Haustür zu produzieren anstatt in Billiglohnländern. Corona hat vielen klargemacht, wie anfällig die Lieferketten sind. Auch ist denkbar, dass viele Rohstoffe – etwa spezielle Metalle für den Bau von Elektroautos – dauerhaft teurer werden. Ähnliches sehen wir bei Speicherchips. Hier haben wir einen Engpass, der nicht kurzfristig behoben werden kann. Zudem ist die Branche von Silizium-Lieferungen aus China abhängig. Der Streit zwischen den USA und China verschärft das noch.
Wie wirken sich die ganzen Effekte in den kommenden Jahren unterm Strich aus? Zumal durch die Notenbanken extrem viel Liquidität im Markt ist.
Ich formuliere es einmal so: Das Risiko, dass wir eine permanent höhere Inflation in den kommenden Jahren sehen werden, ist auf jeden Fall gestiegen. Das ist aber explizit ein Risikoszenario.
Wie sieht Ihr Hauptszenario aus?
In diesem Jahr werden wir noch die hohen Inflationsraten sehen, in den Folgejahren werden wir uns aber wieder bei Werten um die zwei Prozent einpendeln. Damit wäre die Inflation nach der Pandemie höher, aber nicht massiv.
Das ist das Ziel der EZB. Steht die Notenbank jetzt unter Zugzwang, schnell aus ihrer ultralockeren Geldpolitik auszusteigen?
Wir waren jetzt so lange unter der zwei Prozent, dass ein schnelles Handeln der EZB nicht erforderlich ist. Der Druck baut sich langsam auf. Bis 2023 werden wir eine Übergangsphase haben, dann beginnt rein wirtschaftlich gesehen die Zeit nach Corona. Die wird geprägt sein von einem geringeren Wirtschaftswachstum, wir rechnen mit Raten um die 1,5 Prozent. Da wir in dieser Zeit gleichzeitig noch eine Inflation um die zwei Prozent haben werden, wird die EZB handeln müssen.
Niedrige Wachstumsraten machen aber wenig Zuversicht. Zumal die meisten Staaten neue Schulden aufgenommen haben und irgendjemand am Ende für die Kosten der Krise zahlen muss. Rechnen Sie mit höheren Steuern?
Die große Hoffnung der Politik wird sein, dass wir in den kommenden Jahren ein derart hohes Wirtschaftswachstum sehen werden, dass sich diese Frage erübrigt. Diese Hoffnungen werden sich aber kaum verwirklichen. Mittelfristig wird es daher Steuererhöhungen geben.
Wie sehen solche Steuererhöhungen aus?
Dass die Einkommenssteuer massiv angehoben wird, glaube ich nicht. Eine Rückkehr der Vermögenssteuer ist je nach Regierungskoalition durchaus möglich. Das ganz große Thema wird aber die Bepreisung von CO2 sein. Das muss zwar nicht über eine Steuer geschehen, die Wirkung bei einer Zertifikatelösung ist aber vergleichbar. Hinzu kommt die globale Unternehmenssteuer von 15 Prozent, die jetzt auf dem G7-Treffen beschlossen wurde.
Reicht das, um die Schuldenberge abzubauen?
Durch das geplante Schließen der Steuerschlupflöcher ist global mit einem zweistelligen Milliardenbetrag an Steuern zu rechnen. Für eine Sanierung der Haushalte reicht das Geld nicht. Italiens Staatsschulden machen 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, auch Frankreich liegt über 100 Prozent.
Ab wann werden die hohen Schuldenquoten für Europa wieder brenzlig?
Spätestens wenn es dreistellig wird, sollte man sich überlegen, wie man da wieder rauskommt. Die 60 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt im Stabilitäts- und Wachstumspakt ist eine Zahl, die mit Bedacht gewählt wurde. Noch sind die Schulden aber kein Problem, weil die Zinsen extrem niedrig sind. Je mehr Schulden jetzt aber da sind, desto größer werden die Kollateralschäden, wenn die EZB in einigen Jahren die Zinsen anheben wird. Zumal dann die Gefahr besteht, dass der zarte Aufschwung dann wieder abgewürgt wird. Wir befinden uns hier in einem echten Dilemma.
Können sich immerhin die Aktionäre freuen? Inflation befeuert die Kurse, heißt es.
Wenn die Zentralbanken nicht mit höheren Zinsen reagieren, dann ja. Die Unternehmen können bei höheren Preisen schließlich höhere Umsätze generieren. Daher bin ich positiv für Aktien gestimmt. Trotzdem wird es in den kommenden Jahren hier und da ruckeln.
Warum?
Wir haben eine ganze Generation von Investoren, die weniger Unternehmensbilanzen im Blick hatten, sondern immer nur darauf gewartet haben, dass die Notenbank die nächste Geldschleuse aufmacht. Die kennen nur niedrige Zinsen, seit den 90er-Jahren ging es immer nur nach unten. Selbst für eine ganze Generation von Zentralbankern werden positive Zinsen etwas Neues sein. Und wenn jetzt die Zinsen – wenn auch nur langsam – wieder anziehen, wird es am Aktienmarkt den ein oder anderen Rücksetzer geben.
Wo sehen Sie den Dax am Jahresende?
Wir gehen von 15 800 Punkten aus. Im kommenden Jahr dürfte sich der Aufwärtstrend fortsetzen, aber mit einem etwas langsameren Tempo.
Interview: Sebastian Hölzle, Corinna Maier, Matthias Schneider