„Europa muss ein Wirtschaftsblock werden“

von Redaktion

INTERVIEW vbw-Hauptgeschäftsführer Brossardt hofft auf wenig Regulierung und offene Märkte

München – Mit 46 Mitgliedsunternehmen und fast 150 Arbeitgeberverbänden zählt die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) zu den einflussreichsten Interessenvertretungen der Wirtschaft im Freistaat. Wir sprachen mit vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt über Sorgen und Wünsche der Unternehmen vor der Bundestagswahl sowie die Hoffnung, die Corona-Pandemie bald zu überwinden.

Wie ist die bayerische Wirtschaft durch die Pandemie gekommen? Wie beurteilen Sie die Corona-Politik?

Im Frühjahr 2020 habe ich gesagt: Wenn 80 Prozent richtig gemacht wird und 20 Prozent nicht ganz so richtig, dann sind wir auf einem guten Weg. Und das ist tatsächlich eingetreten. Bei den Hilfen ist einiges nicht Planbares nicht so gut gelaufen, hier musste man im Nachhinein nachjustieren. Sehr gut gelaufen ist es dagegen bei den erleichterten Kurzarbeiterregelungen. Die haben eine Menge abgefedert. Auch die zeitweise Aussetzung der Insolvenzantragspflicht hat zur Stabilisierung beigetragen und sich im Nachhinein als richtig herausgestellt. Die Pandemie-Situation war für alle neu, das ließ sich ja nicht planen.

Trotzdem musste das ein oder andere Unternehmen um seine Existenz bangen.

Das ist richtig. Gastronomie, Beherbergungsbetriebe, Teile des Handels, da hat es schon einiges an erheblichen Belastungen gegeben. Bei Unternehmen, die bereits Schwierigkeiten hatten, da hat die Pandemie besonders zugeschlagen. Aber alles in allem wurde das gemacht, was gemacht werden musste.

Ihr Verband hat kräftig fürs Impfen geworben – die Corona-Impfung gilt für die Wirtschaft als wichtigster Beitrag bei der Rückkehr zur Normalität. Ärgert es Sie, dass sich ausgerechnet der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger nicht impfen lassen will?

Wir sind hier anderer Meinung als der Wirtschaftsminister – und mehr will ich dazu auch gar nicht sagen. Die Impfung führt nicht nur dazu, den Menschen die persönliche Freiheit wiederzugeben. Die Impfung verhindert auch einen erneuten Lockdown. Jetzt müssen wir daher alles daran setzen, dass die Impfquote noch weiter steigt. Hier hat der bayerische Gesundheitsminister Holetschek unsere vollste Unterstützung.

In Deutschland ist von einem Lockdown derzeit nicht die Rede, weltweit sieht es anders aus: China hat im Sommer nach Corona-Fällen Häfen zeitweise geschlossen, die Lieferketten weltweit sind gestört, den Autobauern gehen die Chips aus. Was bedeutet das für die Wirtschaft?

Die Situation beim Materialmangel ist extrem angespannt. Allein in der bayerischen Metall- und Elektroindustrie sind zwei Drittel der Unternehmen von fehlendem Material spürbar beeinträchtigt, davon 22 Prozent sogar stark. Und es geht nicht nur um Mikrochips: Uns fehlen sogar Nägel.

Nägel?

Ja, Sie haben richtig gehört. Nägel und Holz. Da fragt sich jetzt natürlich jeder, was das mit der Metall- und Elektroindustrie zu tun hat. Aber die Unternehmen benötigen Holz und Nägel, um ihre Maschinen zu verpacken. Alles ist sehr eng miteinander vernetzt. Dann kam im Frühjahr noch der Brand in einer Chipfabrik in Japan dazu, und die sich ständig ändernde und schlecht planbare Nachfrage durch die Pandemie.

Großbritannien hat ein zusätzliches Lieferkettenproblem: Nach dem Brexit gehen dem Land die Lkw-Fahrer aus, teilweise bleiben Supermarktregale leer. In der bayerischen Wirtschaft redet aber kaum jemand vom Brexit.

Dabei sind die Folgen erheblich. Bayern exportierte 2020 Waren im Wert von 10,3 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich – 18 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Die Importe lagen bei 5,4 Milliarden Euro – minus 7,9 Prozent gegenüber 2019. 2021 scheint sich das auf diesem Niveau zu stabilisieren, aber allein in diesen Zahlen ist der Brexit-Effekt ablesbar.

Lässt sich das noch einmal ändern?

Ehrlich gesagt, nein. Wir können da als Wirtschaft kaum etwas machen. Natürlich versuchen wir weiterhin enge Kontakte zu den Briten zu pflegen. Und sicherlich wird es auf politischer Ebene die ein oder andere Verbesserung geben, aber im Großen und Ganzen sind unsere Befürchtungen eingetreten und wir erleben jetzt eine kompliziertere Mobilität zwischen den Wirtschaftsräumen.

Gleichzeitig droht ein großer Konflikt zwischen den USA und China. Welche Folgen hat das?

Der wichtigste Exportmarkt für Bayern sind nach wie vor die USA. Unsere Auffassung ist es, dass Europa stark genug sein muss, um zu einem eigenen und noch größeren Wirtschaftsblock zu werden – ohne sich auf die eine oder andere Seite zu stellen. Für Deutschland und speziell für Bayern bedeutet das: Wir dürfen uns unsere Exportmärkte nicht kaputt machen lassen, indem wir unseren Markt so abschotten, dass die USA und China ähnliches machen. Europa muss seine Interessen wahren, und die europäischen Märkte müssen offen bleiben.

Was erwarten Sie in diesem Kontext von einer künftigen Bundesregierung?

Erstens: Die Aufrechterhaltung von freien Märkten. Und zweitens: Eine neue Bundesregierung muss dafür Sorge tragen, dass Europa mit einer Stimme spricht.

Und was erwarten Sie jenseits der europäischen Handelspolitik von einer neuen Regierung?

Vernünftige Regierungspolitik.

Da gibt es unterschiedliche Ansätze der Parteien, was als vernünftig gilt und was nicht.

Ich sage es einmal so: Wir haben als vbw vor der Wahl verschiedene Veranstaltungen durchgeführt. Zu Gast waren Norbert Walter-Borjans von der SPD, der Generalsekretär der FDP Volker Wissing war da, von der CSU hatten wir Alexander Dobrindt und von den Grünen Anton Hofreiter. Sie sehen: Wir sind keine Organisation, die Wahlempfehlungen abgibt, das hat keine Tradition bei uns. Uns ist wichtig, dass wir mit allen demokratischen Parteien im regelmäßigen Austausch stehen. Nach der Wahl wird es darum gehen, Probleme zu lösen. Und wir haben klare Vorstellungen davon, wie man das macht.

Und zwar?

Wir werden den künftigen Koalitionären – wer es auch immer sein mag – einen Fragenkatalog zuschicken und wünschen uns, dass diese Fragen im Koalitionsvertrag schlüssig beantwortet werden.

Welche Fragen sind das?

Wo kommt in Zukunft der Strom her? Wie ist die Versorgungssicherheit in unserem Energiesystem gewährleistet? Wie stärken wir die Finanzkraft der Unternehmen? Bleibt genug, um in ordentliches Wachstum zu investieren? Wie schaffen wir es, die Sozialversicherungsbeiträge bei 40 Prozent zu deckeln?

Im Wahlkampf sind auch Worte wie „Vergesellschaftung“ gefallen. Was halten Sie davon?

Komplettes Unverständnis.

Trotzdem wäre im Bund ein rot-rot-grünes Linksbündnis denkbar.

Tut mir leid, sie kriegen mich hier nicht aus der Reserve gelockt. Uns ist wichtig, dass wir in einem guten Kontakt zu einer künftigen Regierung stehen – unabhängig davon, wie sie aussieht. Wir haben eine Vorstellung davon, wie Politik gemacht werden soll – aber es ist doch klar, dass es unterschiedliche Meinungen gibt. Viel wichtiger ist doch, dass wir Dinge diskutieren und in einem Austausch stehen. Wir wollen als vbw einfach unseren – wenn auch kleinen – Teil zum demokratischen Willensbildungsprozess in diesem Land leisten. Das sage ich nicht als Plattitüde, das meine ich auch so. Uns geht es um die angesprochenen Sachfragen.

Und warum erwarten Sie, dass eine künftige Regierung die Finanzkraft der Unternehmen stärkt? Schaut man sich zumindest die großen bayerischen Konzerne an – etwa Siemens oder BMW – könnte das erste Halbjahr kaum besser gelaufen sein. Warum soll der Staat hier nachhelfen?

Weil die Herausforderungen, die wir haben, enorm sind. Nehmen wir nur Klimaschutz, Dekarbonisierung und Digitalisierung: Die Unternehmen haben riesige Investitionen vor sich – und die müssen gestemmt werden.

Die EU verspricht ein klimaneutrales Europa bis 2050. Halten Sie die Ziele für machbar?

Wenn alles bestmöglich optimiert wird, sollte das machbar sein. Aber letztlich hängt das von den Rahmenbedingungen ab: Wenn wir technologieoffen bleiben und der Staat seinen Beitrag leistet, geht das. Für uns als bayerische Wirtschaft ist enorm wichtig, dass schnell die Stromleitungen von Nord nach Süd fertiggestellt werden. Außerdem müssen der Schienenverkehr und der öffentliche Personennahverkehr optimiert werden – hier muss der Staat die Infrastruktur zur Verfügung stellen.

In München wird über eine City-Maut für Autofahrer nachgedacht. Halten Sie das für einen gangbaren Weg, um die Verkehrsprobleme zu lösen?

Wir setzen auf gute Angebote, bevor man reguliert. Wir brauchen Überzeugung und kein Zwang. Ein gutes Nahverkehrsangebot bewegt zum Umsteigen. Hier ist der Staat in der Pflicht, vernünftige Angebote zu schaffen. Wir als Wirtschaft sind auf jeden Fall bereit, diese Herausforderungen anzugehen.

Interview: Sebastian Hölzle, Martin Prem

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