„Es gibt beträchtliche Inflationsrisiken“

von Redaktion

INTERVIEW: Jörg Krämer über die Wende der US-Geldpolitik und die Folgerungen für Europa

Frankfurt – Am Tag nachdem die US-Notenbank Fed eine Kurswende eingeläutet hatte, stiegen weltweit die Kurse an den Aktienmärkten. Die Fed will schrittweise aus den Anleihekäufen aussteigen. Sie hat damit eine Kurskorrektur hin zu einer zurückhaltenderen. Geldpolitik vollzogen. Der Deutsche Aktienindex Dax errang sogar ein Allzeithoch. Offenbar hat die US-Notenbank alles richtig gemacht. Was kann die Europäische Zentralbank daraus ableiten – und womöglich lernen? Wir sprachen mit Jörg Krämer, Chefvolkswirte der Commerzbank.

Die Fed hat am Mittwoch eine vorsichtige Wende der Geldpolitik eingeleitet. Wie beurteilen Sie diese Wende?

Das ist eine deutliche Änderung der Geldpolitik. Die US-Notenbank stellt in Aussicht, dass sie ihre Anleihekäufe bis Mitte nächsten Jahres einstellt. Die Anleger erwarten, dass die US-Notenbank ein paar Monate später beginnen wird, ihre Leitzinsen anzuheben. Eine geldpolitische Kehrtwende haben übrigens auch andere angelsächsische Zentralbanken vollzogen: die kanadische und die australische. Und die britische Zentralbank hat gestern erklärt, dass sie ihre Leitzinsen in den kommenden Monaten erhöhen müsse. Damit hat eine ganze Reihe von Zentralbanken begonnen, auf die wirtschaftliche Erholung und die gestiegene Inflation zu reagieren.

Wie sollte sich Europa darauf einstellen?

Der Euroraum ist eine große wirtschaftliche Einheit. Er könnte sich, wenn es gute Gründe gäbe, von der geldpolitischen Normalisierung in anderen Ländern abkoppeln. Aber es gibt kaum gute Gründe dafür. Auch im Euroraum ist die Inflation deutlich gestiegen – auf 4,1 Prozent. Auch im Euroraum steigen die Immobilienpreise in vielen Ländern seit Langem zu stark. Und auch im Euroraum kommt durch die Anleihekäufe der Zentralbank zu viel Geld in Umlauf. Die EZB hätte gute Gründe, sich den anderen Zentralbanken anzuschließen.

Nun argumentieren die Zentralbanken – gestern auch die Fed – damit, dass sie die Inflation als ein vorübergehendes Phänomen betrachten. Teilen Sie dieses Argument?

Ich glaube auch, dass die Inflationsrate nach der Jahreswende sinken wird, weil Einmaleffekte wie die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer enden und weil der Ölpreis nicht so schnell weitersteigen dürfte wie in den zurückliegenden Monaten. Aber Ende nächsten Jahres dürfte sich die Inflationsrate bei Werten einpendeln, die höher sind als vor der Krise. Und danach wird die Inflation wohl nach oben driften, wenn die EZB ihre Geldpolitik nicht bald normalisiert. Ich erwarte also nach der Jahreswende einen vorübergehenden Rückgang der Inflation, während die Zentralbanken mit Blick auf dieses Jahr von einem vorübergehenden Anstieg der Inflation sprechen.

Man sieht ja auch erste Anzeichen für Zweitrundeneffekte. Die Gewerkschaften steigen mit deutlich höheren Lohnforderungen ein als im letzten Jahr. Kommt da eine Spirale in Gang?

Die Lohnabschlüsse werden im nächsten Jahr sicherlich höher ausfallen. Zum Glück – aus Sicht der EZB – laufen im kommenden Jahr aber nicht so viele Tarifverträge aus. Das ändert aber nichts daran, dass durch die Anleihekäufe der EZB zu viel Geld in Umlauf kommt. Außerdem hat die zuletzt hohe Inflation die Inflationserwartungen der Unternehmen und Bürger erhöht. In diesem Umlauf lassen sich Preise leichter anheben. Es bestehen also beträchtliche Inflationsrisiken. Die EZB muss ihren Leitzins ja nicht massiv erhöhen und eine geldpolitische Vollbremsung hinlegen. Aber sie sollte zumindest den Fuß vom Gas nehmen, also die Anleihekäufe beenden und eine erste Zinserhöhung in Aussicht stellen.

Die Wertpapiermärkte haben auch reagiert. Aber anders, als bei einer restriktiveren Geldpolitik eigentlich zu erwarten ist, stiegen die Aktienkurse. Der Dax erreichte ein neues Allzeithoch. Wie schätzen Sie das ein?

Die Anleger gehen nicht davon aus, dass die Zentralbanken eine Vollbremsung vollziehen werden. Außerdem erfahren sie gerade, dass die Unternehmen im dritten Quartal gut verdient haben. Das stützt natürlich die Aktienmärkte. Hinzu kommt, dass die Fed den Beschluss zur Senkung der Anleihekäufe seit Monaten kommunikativ sehr gut vorbereitet hat. Da wurde keiner auf dem falschen Fuß erwischt.

Daraus schließe ich, auch die EZB sollte eine geldpolitische Wende sehr gut vorbereiten. Gibt es da Signale?

Nein, ganz im Gegenteil. Die Anleger an den Zinsmärkten rechnen mit einer Anhebung des Leitzinses schon im Herbst nächsten Jahres. Die EZB sagt aber, dass diese Erwartungen verfrüht und damit falsch sind. Das heißt, sie redet die Inflationssorgen der Anleger herunter. Die EZB tut alles, damit sie sich noch lange von den anderen Zentralbanken abkoppeln kann.

Interview: Martin Prem

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