Brüssel/München – Ein – inzwischen zumindest offiziell beigelegter – Streit zwischen Deutschland und der Europäischen Kommission lässt Bayerns Justizminister Georg Eisenreich nicht ruhen. Zu grundlegend sind für ihn die Fragen, die das Zerwürfnis auslösten. Es geht um nichts Geringeres als die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts und die Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs in Straßburg.
Anlass der Auseinandersetzung ist das Vertragsverletzungsverfahren, das die EU infolge eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) eingeleitet hatte.
Dieses Urteil hatte im Jahr 2020 großes Aufsehen ausgelöst. Die Karlsruher Richter beanstandeten die milliardenschweren Käufe von Staatsanleihen, obwohl der Europäische Gerichtshof diese zuvor durchgewunken hatte. Die EZB habe mit dem Kaufprogramm ihr geldpolitisches Mandat überzogen, so die Verfassungsrichter. Die EU-Kommission konterte mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland, sie habe sich über das oberste EU-Gericht hinweggesetzt. Dieses Vertragsverletzungsverfahren wiederum stellte die EU ein, nachdem Deutschland diverse Zusicherungen und Klarstellungen vorgenommen hatte. Welche genau, das wollte Georg Eisenreich nach der Einstellung Anfang Dezember 2021 wissen.
Die Erklärung der EU lautete folgendermaßen: Die Bundesrepublik habe förmlich erklärt, den Vorrang und die Autonomie des Unionsrechts anzuerkennen. Insbesondere „verpflichtet sich die deutsche Regierung (…), alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-vires-Feststellung aktiv zu vermeiden“, so der Wortlaut der Presseerklärung. Als „Ultra-vires-Akt“ wird unter Juristen eine Entscheidung bezeichnet, die ein Gericht oder eine Behörde außerhalb ihres Kompetenzbereichs trifft.
Das ließ bei Justizminister Eisenreich die Alarmglocken schrillen. Sollte die Bundesregierung tatsächlich versprochen haben, das höchste deutsche Gericht zu zügeln? Dass sich Karlsruhe nicht mehr mit Fragen der Zuständigkeit von EU und nationalen Organen befassen soll? Der Jurist forderte die Bundesregierung auf, ihre Stellungnahme gegenüber Brüssel dem bayerischen Justizministerium zuzuleiten. Das ist nun geschehen. Die Bewertung durch Eisenreich nach Lektüre ist zwiespältig. Denn offensichtlich war beiden Seiten – EU-Kommission und Bundesregierung – daran gelegen, den Konflikt auszuräumen, auch wenn das die Strapazierung von Interpretationsspielräumen und Weglassungen erforderlich machte. Sowohl beim Anwendungsvorrang des Unionsrechts als auch bei der Frage zu unionsrechtlichem Handeln als Gegenstand von Verfassungsbeschwerden habe die Bundesregierung zwar zutreffend, aber mit Auslassungen geantwortet.
Auf der anderen Seite habe die EU-Kommission in ihrer Pressemitteilung zur Einstellung des Verfahrens gegen Deutschland einiges lückenhaft oder gar falsch dargestellt. Die besonders von Eisenreich beanstandete Stelle, die besagt, Deutschland habe sich verpflichtet, „eine Wiederholung einer Ultra-vires-Feststellung aktiv zu vermeiden“, gibt es dort in dieser Form gar nicht. Die Kommission habe die Stellungnahme stark verkürzt und greife ausschließlich die Elemente auf, die ihre Sichtweise stützen. Der Minister fordert: „Die Bundesregierung muss öffentlich klarstellen, dass die Presseerklärung der Kommission zum Teil unzutreffend und jede Einflussnahme auf das Bundesverfassungsgericht ausgeschlossen ist.“
Was bleibt, sind weiterhin offene Fragen. Etwa die, welchem Gericht in welchem Konfliktfall letzte Entscheidungsbefugnis zukommt. Ein Anfang könnte gemacht sein. Nach Beilegung des Streits um das Anleihenurteil hatte die Bundesregierung einen strukturierten Dialog zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den obersten nationalen Gerichten der EU-Staaten angeregt. Bayern geht noch einen Schritt weiter: Der Justizminister fordert einen Kompetenz-Gerichtshof, dem nationale Verfassungsrichter und EuGH-Richter angehören – und der in künftigen Streitfällen Klarheit darüber schaffen soll, wer zuständig ist, Brüssel oder Berlin, Straßburg oder Karlsruhe. CORINNA MAIER