Die Berichte des Weltklimarates werden von Jahr zu Jahr bedrohlicher. Stürme, Dürren, Überschwemmungen: Die Erderwärmung wird katastrophale Auswirkungen haben, ist sich Julia Pongratz sicher. Sie ist die leitende Klimatologin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und koordiniert das größte deutsche Forschungsprojekt zur Kohlenstoffabscheidung. Sie sagt: „Wenn wir nicht rasch der Atmosphäre CO2 entnehmen, werden wir unsere Klimaziele verfehlen.“
Frau Pongratz, Sie koordinieren die Arbeit von über 100 Wissenschaftlern zur Kohlenstoffabscheidung, kurz CDR. Was versteht man darunter?
CDR steht für „Carbon Dioxide Removal“, also eine Reihe von Methoden für das Entfernen von CO2 aus der Atmosphäre durch Aufnahme des CO2 und möglichst langfristiger Speicherung.
Gerade in Europa stecken wir doch viel Arbeit in die Energiewende. Wozu brauchen wir das?
Der Wechsel hin zur CO2-freien Energieerzeugung ist auch der wichtigste Faktor. Mit den bisher geplanten politischen Maßnahmen werden wir das Pariser 1,5˚-Ziel aber global verfehlen und eher bei 2˚ landen. Nimmt man die Maßnahmen, die schon umgesetzt werden, kommen wir derzeit etwa bei 3˚ heraus. Die Folge wäre, dass sich etwa Dürren oder Flutkatastrophen wie im Ahrtal 2021 häufen würden. Für das 1,5˚-Ziel müssen wir aber auf netto-null kommen, das heißt, unterm Strich gar keine klimaaktiven Gase ausstoßen. Das Problem ist nicht nur das langsame Tempo der Energietransformation, sondern insbesondere auch die schwer vermeidbaren Emissionen, wie sie unter anderem in der Landwirtschaft oder bei Fernflügen entstehen. Um sie zu kompensieren, müssen wir dringend anfangen, das CO2 aus der Atmosphäre zu holen.
Wie kann CO2 gebunden werden?
Der einfachste Weg ist über die Photosynthese: Pflanzen nutzen die Energie der Sonne, um mit dem gasförmigen CO2 aus der Atmosphäre feste Biomasse aufzubauen. Der Kohlenstoff bleibt also in der Pflanze und Sauerstoff geht zurück in die Luft. Der Kohlenstoff bleibt so lange gespeichert, bis die Pflanze zersetzt oder verbrannt wird. Der kostengünstigste Weg ist es also, einen Wald wachsen zu lassen. Dort werden in Mitteleuropa größenordnungsmäßig 70 Tonnen Kohlenstoff pro Hektar in der Biomasse gebunden, im Boden teils noch mehr. Gleichzeitig ist es aber wichtig, vorhandene Speicher zu schützen.
Und welche sind das?
Dazu zählt der Amazonas-Regenwald, der nicht nur etwa 150 Tonnen Kohlenstoff pro Hektar in seiner Biomasse bindet, sondern auch eine enorme Artenvielfalt beherbergt und das globale Wetter steuert. Oder nehmen Sie Mangroven-Wälder, die im küstennahen Salzwasser leben: Sie speichern nicht nur viel CO2 – pro Quadratmeter sogar mehr als Regenwälder, sondern mildern auch Sturmfluten ab. Und wenn das Holz aus den Wäldern geschlagen und langfristig genutzt wird –etwa in Häusern oder Möbeln – und dabei auch noch Materialien wie Zement oder Stahl, bei deren Herstellung viel CO2 ausgestoßen wird, ersetzt, erzielt man einen doppelten Effekt. Allgemein halten wir immer Ausschau nach Mehrfachnutzen: Ein Wald ist etwa wichtig für Biodiversität oder zur Naherholung. Unter diesem Aspekt relativieren sich viele Kostenfragen.
Wegen der wachsenden Weltbevölkerung brauchen wir aber immer mehr Ackerflächen – das ist doch ein Konflikt.
Ja, aber das hat auch mit den Essgewohnheiten zu tun. Wenn die Menschen viel Fleisch essen, brauchen wir mehr Fläche, weil wir für ein Kilo Fleisch ein Vielfaches an Futter einsetzen müssten. Auch die Nahrungsmittelverschwendung könnte deutlich reduziert werden. Trotzdem haben wir gezeigt, dass die Waldbestände global um etwa acht Millionen Quadratkilometer ausgedehnt werden könnten, ohne mit der Landwirtschaft in Konflikt zu kommen. Das würde die globale Mitteltemperatur etwa um 0,3˚ senken.
Welche Möglichkeiten gibt es noch?
Es wird erforscht, wie man die natürliche Verwitterung von Gestein beschleunigen kann. Bei diesem Vorgang, der sich natürlicherweise auf der Zeitskala von Hunderttausenden von Jahren vollzieht, reagiert der Atmosphärenkohlenstoff mit jungem Gestein und wird dort langfristig gebunden. Den Vorgang kann man auf Jahrzehnte verkürzen, indem man das Gestein ganz fein raspelt. Allerdings braucht man natürlich die entsprechende Infrastruktur und Logistik. Um die weltweiten Emissionen vollständig zu kompensieren, müsste man etwa zwei Mal im Jahr das Matterhorn zerkleinern.
Manche Forscher wollen das CO2 im Meer versenken.
Brächte man das CO2 mit Schiffen oder Pipeline in den tiefen Ozean ein, wäre es Jahrzehnte bis Jahrhunderte von der Atmosphäre abgeschirmt. Es gibt aber zwei Probleme: Zum einen würden um die Injektionsstelle Todeszonen entstehen und wir können derzeit nicht gut vorhersagen, wie sich solcher CO2-Eintrag auf das Leben in den Meeren auswirkt. Außerdem ist der Ozean an keiner Stelle komplett ruhig, das heißt, das CO2 würde irgendwann wieder nach oben kommen. Es wird aber auch erforscht, ob man die Ozeanchemie so ändern kann, dass der Ozean mehr CO2 aufnimmt, oder ob man mit Eisen als Dünger das Algenwachstum anregen kann. Die Hoffnung bei Letzterem ist, dass die Algen beim Wachsen CO2 speichern und nach dem Absterben in die Tiefe sinken, wo sie nicht mehr zersetzt werden. Bisher werden die Algen aber oft zersetzt, bevor sie im Ozeansediment abgelagert werden können. An bestimmten Stellen im Meer könnte es aber klappen.
Gibt es auch technische Möglichkeiten?
Die unmittelbarste Form ist wohl das Direct-Air-Capture. Dabei soll das CO2 direkt aus Schornsteinen oder der Atmosphäre gefangen werden. Dafür reagiert es chemisch mit bestimmten Stoffen und wird gebunden. Erhitzt man die Mischung, wird es wieder freigesetzt. Man kann das CO2 dann also beispielsweise in Gasflaschen, Pipelines oder geologischen Reservoirs pumpen. Ölförderunternehmen praktizieren das teilweise, weil das Öl durch den höheren Druck besser aufsteigt. Allerdings ist das Abscheiden bisher sehr teuer: Man geht derzeit von typisch mehreren hundert Euro pro Tonne CO2 aus.
Kritiker zweifeln an der Sicherheit dieser Höhlenspeicher.
Natürlich, es kann immer passieren, dass ein geologisches Reservoir nicht ganz dicht ist oder sich durch irgendwelche Einflüsse öffnet. Dann gelangt das CO2 wieder in die Atmosphäre. Deshalb ist der Kohlenstoff in fester Form – wie als Bauholz oder im verwitterten Gestein – risikoärmer aufgehoben. In Form von Baumaterialien lässt er sich auch wirtschaftlich nutzen und das erhöht die Akzeptanz.
Aber Bäume wachsen relativ langsam, Sie haben doch zur Eile gemahnt.
Maßgeblich ist der Zuwachs pro Jahr, und gerade junge Wälder sind sehr produktiv. Sorge bereitet mir eher die Frage, wie gut Wälder unter den zunehmenden Dürren und Hitzeextremen in Zukunft gedeihen werden. Nicht vergessen darf man aber, dass Wälder weit über die Frage der Kohlenstoffspeicherung hinaus für das Klima relevant sind und die Temperaturen vor Ort um mehrere Grad kühlen können, Hitzewellen abschwächen oder zur Niederschlagsbildung beitragen. Dennoch sollten wir nicht ausschließlich auf eine Maßnahme setzen. Wir benötigen einen Mix aus CDR-Maßnahmen, da einige Methoden jetzt, andere erst später in großem Stile zur Verfügung stehen, weil wir das Risiko, dass einzelne Methoden nicht die erhofften Potenziale bringen, streuen müssen, weil die naturräumlichen Gegebenheiten und die soziale Akzeptanz sehr unterschiedlich sind.
Was gibt es noch?
Bei der Landnutzung kommen neben Wäldern und ihrer Nutzung auch Biomasseplantagen als CDR-Maßnahmen zum Einsatz, das sind schnellwachsende Gräser wie Elefantengras oder Kurzumtriebsplantagen, deren Biomasse dann für Wärme- und Energieerzeugung genutzt werden kann, wobei das CO2 abgeschieden wird. Biomasse kann aber auch in langlebige Biokohle umgewandelt werden, etwa indem man das Material verschwelt. Von der Brandrodungs-Wirtschaft im Amazonas-Regenwald wissen wir, dass die Kohle mindestens 500 Jahre im Boden bleiben kann, ohne zersetzt zu werden. Sie ist offensichtlich auch für die Landwirtschaft nützlich, weil sie im Boden Wasser- und Nährstoffverhältnisse verbessert. Auch hier sehen wir also ein Beispiel, dass CDR- Maßnahmen über ihre Fähigkeit, CO2 zu speichern, hinaus bewertet werden sollten, damit wir negative Nebeneffekte möglichst ausschließen können und Mehrfachnutzen forcieren.
Interview: Matthias Schneider