München – Die Situation ist verfahren: Wladimir Putin will die langfristigen Lieferverträge kündigen und für russisches Erdgas nur noch die Landeswährung Rubel akzeptieren. Die G7-Staaten – darunter Deutschland – lehnen ab. Die Frist für ein Einlenken läuft bis Donnerstag, für beide Seiten steht jetzt viel auf dem Spiel.
Kommt ein Gas-Stopp?
Tobias Federico, Geschäftsführer der Energie-Beratungsagentur Energy Brainpool, hält Putins Manöver indes für eine Finte: „Putin würde sich bei einem Lieferstopp tief ins eigene Fleisch schneiden, tiefer als uns.“ Denn Russland sei dringend auf die Einnahmen angewiesen: „Der russische Staatshaushalt lebt vom Energiehandel. Mittel- bis langfristig könnte Asien Europa als Absatzmarkt ersetzen, aber dafür müssen erst mal die Pipelines gebaut werden.“ Die Einbußen würden Putin sofort mit voller Härte treffen: „Normalerweise werden solche Verträge monatlich nach der Lieferung bezahlt. Wenn Russland die Verträge einseitig kündigt, verliert es damit nicht nur den April, sondern auch den noch nicht bezahlten März.“
Europa sei gerade in der besseren Verhandlungsposition: „Wir rutschen in den Sommer, wo wir nur ein Drittel des Wintergas-Verbrauchs haben. Diesen Bedarf können wir aus anderen Quellen als Russland decken.“ Deshalb ist Federico sich sicher: „Putin blufft. Es ist jetzt wichtig, standhaft zu bleiben.“
Was passiert bei einem Gas-Stopp?
Selbst wenn Gas durch geringeren Bedarf oder höhere Lieferungen physisch vorhanden ist, ergeben sich wirtschaftliche Probleme: „Das russische Gas wird über Zwischenhändler wie die Gazprom-Tochter Wingas an die Energieversorger wie Stadtwerke verkauft.“ Diese Abnehmer decken sich über Verträge Jahre im Voraus mit Kontingenten ein, was eine gewisse Preisstabilität schafft. „ Wenn die Zwischenhändler nicht mehr liefern können, bricht das ganze System bis zu den Endkunden zusammen, selbst wenn rein physisch genug Erdgas in Deutschland ist.“ Denn die Versorger müssten sich dann am teuren Tagesmarkt eindecken, wodurch sie die Preise in den Verbraucherverträgen nicht mehr einhalten könnten. Tobias Federico plädiert deshalb für ein „englisches“ Modell: „London hat angekündigt, der britischen Gazprom-Tochter in diesem Fall einen Zwangsverwalter vorzusetzen, der die Ausfälle mit Staatsmitteln am freien Markt ersetzt.“
Problematisch wäre neben den vertraglichen die marktpsychologischen Wirkungen: „Bis 2024/25, wenn wir genug Flüssiggaskapazitäten an den Häfen haben, können wir Panik-Preise erleben“, sagt Federico. Diese könnten zwischen 50 und 500 Euro pro Megawattstunde liegen. „Wenn die neue Infrastruktur aufgebaut ist, stehen wir in Konkurrenz zu Märkten wie Japan und Südkorea. Das Niveau wird dann zwischen 25 und 80 Euro pro Megawattstunde liegen.“ Diese Rahmenbedingungen gälten bis etwa Mitte der 2030er-Jahre, „wenn Wasserstoff der neue Energieträger ist“. Es gebe jedoch noch Hoffnung auf günstiges Pipeline-Gas: „Es wird auch eine Zeit nach Putin geben“, so Federico.
Was bedeutet ein Stopp für die Wirtschaft?
Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer der IHK für München und Oberbayern, betrachtet einen möglichen Lieferstopp mit großer Sorge:
„Die direkten Auswirkungen auf energieintensive Branchen wie unsere Zement- und Ziegelfabriken, die Metallindustrie, die Nahrungsmittelindustrie wie Molkereien, Zucker-, Stärke- und Futtermittelhersteller, die komplette chemische Industrie, die Glas- und Keramikindustrie und die Papierhersteller, sind im besten Fall Produktionsunterbrechungen und Kurzarbeit, im schlechtesten Fall Insolvenz und Verlust der Arbeitsplätze.“ Laut Expertenschätzungen haben energieintensive und gasabhängige Betriebe in Bayern mehr als 200 000 direkte Beschäftigte. Denn neben der reinen Verfügbarkeit sei der Preis von Gas der limitierende Faktor: „Die Betriebe haben langfristig mit Erdgaspreisen von bis 30 Euro pro Megawattstunde kalkuliert, nun liegen die Preise bereits ohne Embargo beim Dreifachen, im Extremfall auch am Spotmarkt schon beim Zehnfachen“. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaft würde ein Importstopp von Öl und Gas aus Russland das deutsche Bruttoinlandsprodukt um bis zu drei Prozent einbrechen lassen.
Was bedeutet ein Stopp für Verbraucher?
Indirekt schlagen die explodierenden Energiepreise über deutlich höhere Preise für alle energieintensiven Produkte und Dienstleistungen wie Lebensmittel, Konsumgüter, Baustoffe und Mobilität auf die Verbraucher durch, wie der Münchner IHK-Chef Manfred Gößl erklärt. Betroffen wären langfristig auch die Verbraucherpreise für Strom und Ergas. Hier kommt es laut Detlef Fischer, Chef des Verbands der bayerischen Energie- und Wasserwirtschaft, auf die Einkaufsstrategie der Versorger an: „Seriöse Versorger kaufen ihre Kontingente in Chargen Jahre im Voraus ein, die können kurzfristige Preisspitzen an den Großhandelsmärkten besser aussitzen. Wer ausschließlich kurzfristig an den Spotmärkten beschafft – in der Vergangenheit oft erkennbar an Discount-Preisen – muss die Kosten in Krisenzeiten sofort in voller Höhe an seine Kunden weitergeben. Das Ergebnis ist bekannt, diese Versorger gehen regelmäßig in die Insolvenz. Die Kunden haben das Nachsehen.“
Was kann getan werden?
Kurzfristig könnte ein Drittel der russischen Energieimporte durch Sparmaßnahmen ersetzt werden. Das hat eine Studie des Verbandes der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft ermittelt. Sollte dennoch nicht genug Gas vorhanden sein, verlangt ein europäischer Mechanismus, dass Privathaushalte bevorzugt beliefert werden. Das beste Mittel aber wäre, alternative Energiequellen zu haben. Dazu zählt ein schnellerer Ausbau der Erneuerbaren, um Gaskraftwerke weniger nutzen zu müssen. Daneben kann Flüssiggas importiert werden, was aber relativ teuer ist, da hier Weltmarkt-Konkurrenz besteht. „Die allermeisten Industrieprozesse sind bereits auf Energieeffizienz getrimmt, das Einsparpotenzial hält sich deshalb in Grenzen“, sagt Manfred Gößl und fordert: „Die staatlichen Abgaben auf jede Form von Energie sollten auf die minimal möglichen Sätze gesenkt werden. Außerdem müssen Kredit- und Eigenkapitalprogramme für besonders betroffene Unternehmen ins Laufen gebracht werden.“