München – Der Sog der US-Börsen hat auch die Kurse deutscher Aktien weiter nach unten gezogen. Am Donnerstag gab der deutsche Leitindex Dax um 0,46 Prozent nach, seit Jahresanfang ist er nun rund 15 Prozent im Minus. Kapitalmarktstratege Tillmann Galler von JP Morgan Asset Management erklärt, was Anleger nun tun sollten.
Herr Galler, letztes Jahr haben sich so viele Deutsche an den Aktienmarkt gewagt wie seit Jahren nicht mehr. Nun stürzen die Kurse ab. Was raten Sie diesen Anlegern?
Die Kernbotschaft ist: Durchhalten! Aktien sind eine Kapitalanlage, mit der man für das Alter vorsorgt. Egal wie stark die Kurse kurzfristig schwanken, langfristig bringen Aktien nach unseren Marktschätzungen nach wie vor attraktive Erträge.
Auch, wenn die Zinsen nun wieder steigen?
Ja, denn sie liegen noch weit unter der Inflation. Geld auf dem Konto – und übrigens auch das in sichere Anleihen investierte Kapital – verliert nach wie vor sehr schnell an Kaufkraft und damit real an Wert. Die höhere Inflation beschleunigt diese Entwertung sogar. Deshalb müssen Sparer weiter etwas tun, um ihr Kapital zu erhalten. Aktien als reale Vermögenswerte eignen sich sehr gut dafür.
Trotzdem ist es im Moment schmerzhaft, ein Aktiendepot zu haben. Weshalb stürzen die Kurse denn gerade so ab?
Durch die Niedrigzinsen und die Anleihekäufe der großen Notenbanken wie der Fed in den USA oder der Europäischen Zentralbank (EZB) war in den vergangenen Jahren sehr viel Geld an den Finanzmärkten unterwegs. Das ist auch in Aktien geflossen und hat dort die Kurse stark nach oben getrieben. Nun stellen die Notenbanken ihre Anleihekäufe ein und erhöhen die Zinsen, um die Inflation zu bekämpfen. So entziehen sie auch den Aktienmärkten Liquidität, was dort die Kurse belastet. Dazu kommen andere Unsicherheiten, etwa die Corona-Pandemie oder natürlich der Krieg in der Ukraine.
Das klingt nach einer Welt voller Risiken. Was heißt das für die Wirtschaft?
Einerseits machen gestörte Lieferketten, Materialmangel oder steigende Energiepreise der Wirtschaft Probleme. Andererseits geht es den meisten Unternehmen trotz dieser Risiken relativ gut, ihre Gewinne sind stabil. Viele können die gestiegenen Preise einfach an die Kunden weitergeben. Aber: Das gilt nicht für alle!
Für wen gilt es denn nicht?
Vor allem für Onlinewerte aus der Technologiebranche.
Die haben in den vergangenen Jahren riesige Kursgewinne gemacht.
Diese goldenen Zeiten sind unserer Meinung nach vorbei. Die Zinserhöhungen haben eine Zeitenwende verursacht, die lange wirken wird.
Das heißt, die Ära von Amazon oder Netflix ist vorüber?
Es werden nicht alle Wachstumswerte Probleme haben, aber diejenigen, die nicht wirklich profitabel sind und bei denen sehr viel Hoffnung in den Kursen steckte. Denn künftige Gewinne sind wegen der Inflation real weniger wert. Außerdem verschlechtern sich die Kreditbedingungen. Das ist für Wachstumswerte ein Problem – viele von ihnen finanzieren ihre Expansion ja durch Kredite. Man sieht die Zweiteilung gut an der US-Technologiebörse Nasdaq. Dort hat rund die Hälfte der Unternehmen zuletzt über die Hälfte an Wert verloren, während sich andere besser gehalten haben.
Wenn Wachstumsaktien abgeschrieben sind: Wer sind die neuen Favoriten der Großanleger?
Das dürften die sogenannten Value-Titel oder Substanzwerte sein, etwa Versorger, Banken, die Rohstoffbranche oder Konsumgüterhersteller. Sie galten in den vergangenen Jahren als langweilig, weil sie keine so hohen Wachstumsraten haben, der technische Fortschritt war da wohl spannender. Dafür schütten Substanzwerte hohe Dividenden an Aktionäre aus, haben wenig Schulden, solide Bilanzen, stabile Geschäftsmodelle und machen schon heute gute Gewinne. In einem inflationären Umfeld mit steigenden Zinsen sind diese Realitäten für Investoren wichtiger als Wachstumsfantasien, die sich später vielleicht gar nicht bewahrheiten.
Was ist mit Aktien aus dem Umweltbereich? Auch hier gab es lange einen Hype, 2021 gaben die Kurse dann aber nach.
Ja, aber dieser Trend wird weiter gehen. Die letzten Monate haben gezeigt, dass man sich möglichst schnell von fossiler Energie unabhängiger machen sollte, die ja oft aus Russland kommt. Zu Beginn des Ukraine-Krieges zogen dann auch die Kurse von Wind-, Wasserkraft- und Solarunternehmen oder anderen Firmen aus dem Bereich Energieeffizienz wieder kräftig an. Aber auch für den Ausbau erneuerbarer Energien oder für die Elektromobilität braucht man Unmengen an Rohstoffen, zum Beispiel Kupfer oder Nickel. Die kommen leider ebenfalls oft aus Russland. Alternative Hersteller und Minenbetreiber im Rohstoffbereich sollten deshalb in den kommenden Jahren gute Geschäfte machen. Nach einem von fossilen Energien getriebenen Superzyklus wird es nun einen Superzyklus bei Metallen geben. Ein Elektroauto braucht etwa sechs Mal so viel Metalle wie ein normales Auto, auch Windräder, Solaranlagen oder Batteriespeicher verschlingen Tonnen von Metallen. Ohne Rohstoffe werden die Energiewende und die Elektrifizierung des Verkehrs scheitern.
Steigende Zinsen bedeuten schlechtere Kreditkonditionen. Wird es eine Pleitewelle geben, weil Firmen nicht mehr so gut an Kredite kommen?
Unternehmen mit sehr dünner Kapitaldecke werden in Schwierigkeiten kommen. Aber es dürfte keine große Pleitewelle geben, weil selbst die meisten weniger zahlungskräftigen Firmen die Niedrigzinsen genutzt haben, um sich sehr langfristig mit günstigen Krediten abzusichern. Das senkt das Risiko an den Kreditmärkten.
Gilt das auch für Staaten? Die Staatsschulden sind in der Corona-Krise weiter massiv gestiegen.
Wir gehen davon aus, dass die Notenbanken die Zinsen weiter unter der Inflation halten. Man nennt das finanzielle Repression. In solchen Zeiten schmelzen die Staatsschulden wegen der negativen Realzinsen vereinfacht gesagt genauso dahin wie das Geld auf dem Konto. Das ist sozusagen eine elegante Art der Entschuldung, ohne wirklich Schulden abzubauen. Das hilft übrigens auch der Wirtschaft und den Verbrauchern, denn deren Verschuldung ist ebenfalls viel höher als etwa in den 70er-Jahren, als wir zuletzt hohe Inflationsraten hatten.
Droht uns ein Szenario wie in den 1970ern?
Nein. Damals hob die US-Notenbank den Leitzins in der Spitze bis auf fast 20 Prozent an. So etwas wäre heute wegen der weltweit hohen Verschuldung undenkbar, man würde eine schwere Kreditkrise riskieren. Deshalb wird die Fed irgendwo innehalten müssen. Das gilt noch mehr für die EZB, sie muss den Euroraum zusammenhalten, wo einige Länder hoch verschuldet und auch die Volkswirtschaften unterschiedlich aufgestellt sind. Sie wird sehr vorsichtig agieren.
Ab welchem Zinsniveau wird es kritisch?
Das ist die Kardinalfrage, das wüssten die Zentralbanker auch gerne. Und genau das ist der kritische Punkt. Die Fed wird die Zinsen nun schnell anheben, wir erwarten bis Jahresende in den USA einen Leitzins von 2,5 Prozent – das ist mehr als doppelt so hoch wie heute. Aber dann wird sie im Tempo nachlassen und sich an den kritischen Punkt herantasten, ab dem es kippt, die Wirtschaft in eine Rezession stürzt und es an den Märkten sehr turbulent wird.
In den letzten Tagen war es an den Börsen schon turbulent. Bleibt das so?
Anleger brauchen in den nächsten Monaten weiter starke Nerven. Die Unsicherheit bleibt, die Risiken auch. Deshalb sollte man wie eingangs gesagt lieber die langfristige Perspektive im Blick behalten und zum Beispiel seine Sparpläne diszipliniert weiter laufen lassen statt jetzt panisch zu werden.
Interview: Andreas Höß