München/Frankfurt – Die hohe Inflation zwingt die Europäische Zentralbank (EZB) zum Handeln. Bei ihrer Sitzung am morgigen Donnerstag wird sie die Zinsen wohl trotzdem nicht anheben. Warum das so ist, erklärt Professor Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Der Experte für Geldpolitik glaubt, dass die EZB einen riesigen Fehler macht.
Herr Heinemann, die EZB muss die hohe Inflation bekämpfen. Die Zinsen will sie aber erst im Juli erhöhen. Wieso nicht jetzt?
Die EZB hat einen Fahrplan festgelegt. Der sieht so aus: Zunächst wird sie ihre Käufe von Wertpapieren wie Staatsanleihen beenden, dann wird sie die Zinsen anheben. In der kommenden Sitzung wird sie deshalb erst das vorgezogene Ende der Wertpapierkäufe ankündigen, im Juli dann die Zinsen anheben.
Die Inflation liegt schon bei acht Prozent. Muss sie nicht schneller handeln?
Die EZB handelt schon schneller, als sie ursprünglich wollte, aber steckt trotzdem in ihrer eigenen Falle: Sie hat den Fehler gemacht, viel zu spät umzuschwenken, und muss jetzt ihrem Fahrplan folgen, um verlässlich zu bleiben. Vor allem das Lager um Chefvolkswirt Philip Lane ist viel zu lange davon ausgegangen, dass die hohe Inflation vorübergehend ist. Das wurde fast wie ein Mantra vorgetragen. Noch im Dezember hatte Lane sehr optimistische Inflationsprognosen, die sich als falsch herausgestellt haben. Jetzt tobt endlich eine Debatte im EZB-Rat, manche wollen den Leitzins sogar um 0,5 statt wie üblich um 0,25 Prozent erhöhen. Die sind aber noch in der Minderheit.
Die USA haben die Zinsen viel früher erhöht, nämlich im März. Seither gehen sie konsequent gegen die Inflation vor. Was ist dort anders als in Europa?
Die EZB hat lange argumentiert, dass der Arbeitsmarkt in Europa nicht wie in den USA überhitzt, weshalb die US-Notenbank stärker gegensteuern müsse als die EZB. Aber wir sehen auch in Europa und in Deutschland verstärkt Anzeichen für eine Lohn-Preis-Spirale. Die deutsche Arbeitslosigkeit liegt unter dem Niveau von vor der Pandemie. Außerdem klagen drei von vier Unternehmen, dass sie keine Fachkräfte finden. So anders ist die Lage hier also nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Energiepreise durch den Ukraine-Krieg in Europa viel stärker steigen als in den USA.
Die EZB hätte also schon gegensteuern müssen?
Man muss einfach festhalten: Die EZB reagiert viel zu spät. Viele glauben gar nicht mehr wirklich daran, dass die EZB die Lage schnell unter Kontrolle bekommt. Das sieht man an den Inflationserwartungen, die langsam aus dem Ruder laufen. Das ist brandgefährlich, denn Inflation ist auch Kopfsache. Glaubt man, dass die Dinge in der Zukunft noch teurer werden, dann werden die Lohnforderungen noch höher – und das treibt damit die Preise noch mehr.
Kritiker sagen seit Jahren, die EZB kreiere mit Negativzinsen hohe Inflation. Jetzt ist sie da. Ist die EZB schuld? Oder ist sie Opfer unglücklicher Umstände?
Rückblickend muss man sagen: In den ersten 20 Jahren des Euro hat sie einen super Job gemacht. Die Inflations-rate war im Schnitt unter der Zielmarke von zwei Prozent, bis zu der man von stabilen Preisen spricht. Jetzt kommt mit dem Nachfrageboom nach den Lockdowns, den wegen Corona noch gestörten Lieferketten und den steigenden Rohstoffpreisen wegen dem Ukraine-Krieg viel zusammen. Trotzdem hat die EZB Faktoren, die die Preise dauerhaft treiben, einfach ignoriert oder unterschätzt.
Welche denn?
Die Transformation zu erneuerbaren Energien wird Jahre dauern und treibt die Energiepreise. Die CO2-Bepreisung trägt auch dazu bei. Durch die gesellschaftliche Alterung fehlen immer mehr Arbeitskräfte. Das wird sich erst noch richtig zuspitzen. Außerdem hat die Globalisierung über Jahrzehnte Waren immer billiger gemacht. Wird sie nun ein Stück zurückgedreht, spüren wir das auch im Geldbeutel, weil Dinge wieder teurer werden. Diese dauerhaften Trends werden durch die Pandemie und den Ukraine-Krieg verstärkt.
Corona, Deglobalisierung, Demografie, ein Krieg: Kann die EZB überhaupt etwas gegen solche Preistreiber tun?
Natürlich! Und zwar sehr effektiv. Hebt sie die Zinsen mutig an, wertet auch der international im Moment sehr schwache Euro sofort auf. Und das verbilligt wiederum Energieimporte, weil wir für Öl oder Gas plötzlich weniger Euro hinlegen müssten. Das wäre ein schneller Dämpfer für die Inflation. Und was die Preise für Autos, Reisen, Bau oder Rohstoffe betrifft: Natürlich kann sie hier nicht für mehr Angebot sorgen, aber sie kann durch höhere Zinsen die Nachfrage reduzieren. Und das würde wiederum die Preise drücken …
… und die Wirtschaft ziemlich ausbremsen.
Ja, das ist eine große Herausforderung. Aber der Vertrag von Maastricht hat der EZB aus gutem Grund den klaren Auftrag gegeben, sich um die Preisstabilität zu kümmern. Das ist ihre oberste Priorität. Den Zielkonflikt, dass sie die Inflation bekämpfen muss, ohne die Wirtschaft abzuwürgen, gibt es in Wahrheit für die EZB also gar nicht. Sie muss für die Preisstabilität sogar einen wirtschaftlichen Einbruch in Kauf nehmen, das ist der unangenehme Teil ihres Auftrags. Das Wirtschaftswachstum ist die Aufgabe der Politik – in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten.
Die Preise von Vermögenswerten wie Aktien oder Immobilien sind wegen dem billigen Geld über Jahre enorm gestiegen. Könnten hier Blasen platzen, wenn die Notenbanken die Zügel anziehen?
Das wäre ein Problem, wenn Banken wegen fehlendem Eigenkapital in die Bredouille kommen. Seit der Finanzkrise hat sich aber viel geändert. Durch die Bankenunion und strengere Eigenkapitalregeln können die Banken jetzt viel mehr wegstecken. Aber dass höhere Zinsen jetzt wohl den Höhenflug der Immobilienpreise beenden, ist eigentlich eine gute Nachricht. Denn hier gab es wirklich in einigen Ballungsgebieten gewisse Überhitzungen.
Das werden viele Hausbesitzer nicht so sehen.
Stimmt, einige werden Verlierer dieser Entwicklung sein, weil der Wert der Immobilie schwindet oder die nächste Anschlussfinanzierung schwieriger wird. Aber: Die Menschen sind die Risiken selbst eingegangen, es gibt für niemanden eine Nullzins-Garantie. Auch hier muss die EZB Kollateralschäden in Kauf nehmen. Das ist die längst überfällige Beruhigung nach einer Phase der Übertreibung. Außerdem kann man in vielen Städten wirklich noch nicht von einer Immobilienblase sprechen.
In München auch nicht?
Ich weiß, in München ist das ein bisschen anders. Aber München ist nicht repräsentativ für Deutschland und auch nicht für die Eurozone.
Interview: Andreas Höss