Ingolstadt – Das Jahr 1913 war ein Schlüsseljahr für die Industrie: In Detroit begann der Autobauer Henry Ford, sein T-Modell am Fließband zu fertigen. Arbeiter waren plötzlich nur noch für einen einzigen Produktionsschritt verantwortlich, schraubten etwa Reifen oder Lenkräder an – und mussten sich dabei der Geschwindigkeit des Fließbandes unterwerfen. Die Arbeitsteilung und die strenge Taktung, die sich Ford von den Schlachthöfen in Chicago abgeschaut hatte, brachten enorme Effizienzgewinne: Statt zwölf Stunden dauerte es nur noch 90 Minuten, um ein Auto zusammenzubauen. Kein Wunder, dass andere Autobauer wie Opel die Idee schnell aufgriffen.
Heute ist die Fließbandproduktion in der Industrie Alltag. Jedoch kommt sie langsam an ihre Grenzen. „Im Autobau gibt es immer mehr Modelle und mögliche Konfigurationen“, erklärt Wolfgang Kern, der als Projektleiter für Audi arbeitet. Autotür sei zum Beispiel nicht gleich Autotür. Fahrertüren haben etwa meist vier statt einem Fensterheber sowie zusätzlich Knöpfe für die Außenspiegel. Hinzu kommt frei konfigurierbare Sonderausstattung, von Sonnenrollos über unterschiedliche Audiosysteme bis zu Ambientebeleuchtung, Dekorleisten oder verschiedene Farben und Materialien wie Leder oder Carbon. „Am Fließband ist das kaum noch zu machen“, sagt Kern. Hier sei die Produktion zu starr und zu eng getaktet.
Deshalb forschen Kern und sein Team im Audi-Werk in Ingolstadt an einer neuen Technik, die jetzt vor der Serienreife steht. Matrixproduktion oder modulare Montage nennt man sie. Im Moment wird sie in einem Pilotprojekt an Türverkleidungen erprobt. Dabei stehen die Mitarbeiter statt an einem Band in einer Halle verteilt an acht Stationen, dort erledigen sie nach wie vor nur einzelne Arbeitsschritte. Anders als am Band werden die Stationen gezielt von autonom fahrenden Transportsystemen angesteuert, welche die Türen genau dorthin bringen, wo gerade ein Mitarbeiter frei ist und wo dann genau jene Teile montiert werden, die bei der speziellen Tür benötigt werden, Sonnenrollos etwa.
Geregelt wird das alles von einer künstlichen Intelligenz (KI). Sie kennt die Bestellungen der Kunden und weiß, was für Türen mit welcher Ausstattung gebaut werden müssen. Und sie dirigiert die fahrerlosen Transportsysteme, organisiert die Mitarbeiter an den Stationen und stellt die richtigen Teile bereit. Damit ist sie das Gehirn der gesamten Anlage. Der Mitarbeiter überlegt also nicht mehr, was er einbauen muss, sondern die KI entscheidet, welche Tür sie zu welchem Mitarbeiter schickt. Sie ordnet das, was wie ein Chaos aus fahrenden Robotern, schraubenden Menschen und vielen Behältern mit Teilen aussieht. Sie bemerkt auch, wenn es an einer Station länger dauert, weil ein Mitarbeiter langsamer ist oder ein Teil schwieriger einzubauen. Dann organisiert die KI den Produktionsprozess um oder steuert andere Stationen an, um Staus oder Wartezeiten zu vermeiden.
„Die modulare Montage ist flexibler und effizienter“, erklärt Kern den Vorteil des Systems. Die Arbeitsteilung wie am Fließband bleibe erhalten, gleichzeitig sei die Abfolge der Produktion aber variabel und das Arbeitstempo könne sich von Station zu Station unterscheiden. So lassen sich schwierige Fertigungsschritte wie der Einbau der Sonnenrollos, die wegen der engen Taktung am Band von drei Mitarbeitern erledigt werden müssen, auf einen Arbeiter bündeln. „Insgesamt reduzieren wir die Fertigungszeit damit und steigern die Produktivität fallbezogen um bis zu 20 Prozent“, rechnet der Projektleiter vor.
Ob die Umstellung auf eine Matrixfertigung mit Arbeitsplatzabbau einhergeht, sagt Audi nicht. Für die Mitarbeiter sei das System ein Fortschritt gegenüber dem Band, beteuert Kern. „Durch die variable Taktung können wir hier auch Menschen beschäftigen, die wegen körperlichen Beeinträchtigungen an der Linie nicht mehr eingesetzt werden können“, so Kern. Außerdem könne man die Stationen besser an die eigene Größe anpassen und sich so einen ergonomischen Arbeitsplatz einrichten.
Bei Audi ist man sicher, dass die Technik kommt. Sie gilt wie einst das Fließband als Revolution in der Industrie, neben Audi arbeiten laut einer Studie der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften auch Konzerne wie Infineon, SAP oder Daimler Trucks bereits an der Matrixproduktion. Bei Audi soll das Pilotprojekt noch bis Jahresende laufen, 2026 soll die Technik dann endgültig in Ingolstadt in die Serienfertigung integriert werden. Bis dahin wird die zweitgrößte Autofabrik Europas noch vernetzter sein. Roboterhunde könnten dann die Hallen scannen, um für smarte Produktionsprozesse nötige 3D-Modelle zu erstellen.
Ganz einmotten wird Audi das Fließband aber auch dann nicht. Man suche gerade, für welche Einsatzfelder sich die Matrixproduktion noch eigne, sagt Kern, der sich aber nicht in die Karten schauen lassen will. Nur so viel: „Vor allem in der Vormontage bei komplexen Produkten mit vielen Varianten wird die modulare Technik eine wichtige Rolle spielen. Am Ende sollen am Fließband nur noch möglichst wenige große Teile zusammengebaut werden.“ Bis es so weit ist, werden die fertigen Türverkleidungen aus dem Pilotprojekt aber immer wieder komplett demontiert – und dann von Neuem zusammengeschraubt, bis zu 100 Prozent sicher ist, dass alles wie am Fließband klappt.