Bislang hat die Europäische Zentralbank die Probleme der Euro-Zone mit Geld zugeschüttet. Da das in der Inflation nicht mehr geht, hat sie nun ein neues Anti-Fragmentierungsinstrument entwickelt, dessen Aufgabe es ist, hoch verschuldete Länder vor Zinsspreads im Vergleich zu anderen, weniger verschuldeten Ländern zu schützen. Bei Bedarf will sie in ihrem Portefeuille die Papiere der gering verschuldeten gegen die Papiere der hoch verschuldeten Staaten austauschen, um den Zinsunterschied zwischen ihnen zu verringern. Ob Bedarf besteht, entscheidet sie ganz allein.
Das ist sehr problematisch, weil Zinsspreads zu einem funktionierenden Kapitalmarkt und zu einer funktionierenden Föderation gehören. Die Zinsspreads beziehen sich auf die nominal, auf dem Papier vereinbarten Zinsen, doch diese Zinsen werden im Konkursfalle gar nicht gezahlt. Damit die effektiven, mathematisch erwarteten Zinsen für alle Länder gleich werden, spreizt ein effizienter Kapitalmarkt die Zinsen nach der Höhe der Länderrisiken aus.
Wenn sich ein Staat über Gebühr verschuldet, steigt seine Konkursgefahr, die Anleger verlangen zur Kompensation höhere Zinsen, und die höheren Zinsen veranlassen den Staat, die Kreditaufnahme zu verringern. Dadurch werden Schuldenexzesse automatisch verhindert.
Die Reduktion der Zinsunterschiede bedeutet faktisch eine fiskalische Subventionierung der Kreditaufnahme hoch verschuldeter Länder zulasten der weniger verschuldeten Länder, die nun höhere nominale und effektive Zinslasten zu tragen haben. Die Proteste der Steuerzahler und Verfassungsgerichte der belasteten Länder sind damit vorprogrammiert.
So oder so kommt das EuroSystem nun in ein sehr raues Fahrwasser. Die Zeiten, in denen die EZB den Ländern auf dem Wege über ihre Aufkaufprogramme frisch gedrucktes Geld zur Verfügung stellen konnte, ohne irgendwo Entzugseffekte zu erzeugen, sind definitiv vorbei. Druckt sie zum Zwecke der Staatsfinanzierung neues Geld, enteignet sie die Geldhalter der Euro-Zone durch Inflation, und wendet sie ihr Anti-Fragmentierungsinstrument an, verteilt sie die Haushaltsmittel der Staaten um.
Die Staatsfinanzierung mit der Druckerpresse war während der Abfolge der Euro-Krisen seit der Lehman-Krise im Jahr 2008 der hauptsächliche Treiber der Geldmengenausweitung. Nicht weniger als 83 Prozent des gesamten Überhangs an Zentralbankgeld relativ zur Wirtschaftsleistung der Euro-Zone, der seit dem Sommer 2008 geschaffen wurde, immerhin 5,3 Billionen Euro, entstanden durch den Aufkauf von Staatspapieren. Das Geld schuf Ruhe und Vertrauen unter den Anlegern, doch genau deshalb regte es die Staaten an, sich unter Missachtung sämtlicher Schuldenschranken des Euro-Systems immer weiter zu verschulden. Die Verschuldung belebte die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und hielt die Arbeitslosigkeit in Schach. Inflationäre Sekundäreffekte durch eine Ausweitung des Kreditangebots der Banken unterblieben, weil das neu in Umlauf gekommene Geld von den Banken und Privatleuten gehortet wurde.
Inzwischen hat die Pandemie die Welt aber in eine Stagflation gezwungen, weil es über Lockdowns und Quarantäne-Maßnahmen überall zu Produktionsstockungen und Lieferproblemen kam, die gerade in China längst nicht überwunden sind. Opportunistische Angebotsverknappungen seitens der Anbieter fossiler Energie traten hinzu. Es entstand eine massive Inflation, die die Effekte der Ölkrisen der 1970er-Jahre weit in den Schatten stellt.
In der Stagflation funktioniert die Staatsfinanzierung mit der Druckerpresse nicht mehr, weil sie die Inflation nur noch weiter befeuern und das um ihre Ersparnisse fürchtende Bürgertum in Aufruhr versetzen würde. Die Bonität der überschuldeten Staaten und Finanzsysteme lässt sich heute nur noch durch internationale fiskalische Hilfsprogramme sichern, die mit Steuern statt Schulden finanziert werden. Der Widerstand der Bürger gegen eine solche Lösung ist jedoch nicht minder groß. Auch das Fragmentierungsinstrument der EZB ist ein solches Hilfsprogramm, weil es zu Umverteilungseffekten zwischen den Staatsbudgets kommt.
Damit steht die EZB vor einem Dilemma. Will sie den bedrängten Staaten weiterhin bei der Verschuldung helfen, muss sie sich entscheiden. Sie kann den Staaten die benötigten Ressourcen über eine Verdrängungsinflation zulasten des Vermögens der Geldhalter besorgen, oder sie kann einigen Staaten die benötigten Ressourcen zulasten anderer Staaten verschaffen. Die Zeit des Free Lunch auf dem Wege einer inflationsfreien Bedienung der Druckerpressen ist vorbei, weil sich die Wirtschaftstätigkeit in einer Stagflation nicht mehr über eine keynesianische Nachfragepolitik stimulieren lässt.
Die Inflation würde man der EZB anlasten. Die Umverteilung zwischen den Staaten aufgrund des Anti-Fragmentierungsintruments würde bei den Geschädigten zu Proteststürmen führen und heftige juristische Konsequenzen mit sich bringen. Nichts zu tun, würde die Kapitalmärkte in Aufruhr versetzen. Die EZB steht vor einer Zerreißprobe, von der man nicht weiß, wie sie sie überstehen kann.
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lassen wir regelmäßig renommierte Wirtschaftswissenschaftler zu Wort kommen.